Türkei

Von geschmolzenem Asphalt und türkischer Gastfreundschaft

In Istanbul eskaliert die Protest-Situation zunehmend, und ihr könnt euch vorstellen, wie wir uns gefreut haben, endlich mal wieder etwas Luft ohne Tränengasgeschmack zu schnuppern (na gut, so schlimm wars dann auch wieder nicht :-)). Dennoch verlassen wir Europa mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit dieser neuen tektonischen Platte unter den Rädern kommen nun einige Länder ins Blickfeld, die vermutlich nicht gerade auf zwei Velofahrer aus der Schweiz gewartet haben.

Als wir am frühen Morgen im 50 Kilometer südlich gelegenen Yalova aus der Fähre steigen, empfängt uns der asiatische Kontinent mit Regen. Was man als normalsterblicher Tourist ja oft als Affront gegen seine verdiente Ferienerholung empfindet, ist für uns ein freudiges Ereignis. Ohne Murren montieren wir Regenjacke, Hosen, Handschuhe und Füsslinge und überqueren bei endlich angenehmer Reisetemperatur die erste asiatische Hügelkette. Auf Google Earth haben wir auf dem Weg per Zufall eine Thermalquelle gesichtet – zum Glück! Denn sonst wären wir mangels entzifferbarer Beschilderung ahnungslos vorbeigefahren. Das nennt man sein touristisches Highlight unterverkauft!

Gesundheitsbad in der Naturtherme. Mit dem netten Herrn im Pool führte ich eine längere Unterhaltung in Türkisch. Seine Frau ist in der Burka ins Wasser gestiegen...

Tieftürkis mit lauschigen Picknickplätzen ladet das handwarme Nass zum Bade, doch bevor ich mich ins Bikini stürzen kann, entdecke ich am Beckenrand plötzlich die einzige badende Person. Es ist eine ältere Frau, und sie ist – oh Schock – in voller Burka-Montur inklusive Kopftuch. Wie eine Kröte sitzt sie unbeweglich im Wasser, nur der Kopf bzw. das Kopftuch ragt heraus. Fehlt noch, dass sie anfängt zu blubbern… Da ich keine Lust habe, mich der lokalen Schwimm-Mode anzupassen, verzichte ich dankend auf ein Bad, während der Mann der Reisegruppe in seinem knappen Badehöschen fröhlich im Kurwasser plantscht und sich mit dem Mann der Kröte auf Türkisch bestens unterhält.

Am Abend erreichen wir Iznik am lauschigen Izniker See, eine antike und byzantinische Stadt aus vorchristlicher Zeit. Die römischen und griechischen Sehenswürdigkeiten nehmen wir auf der Hotelsuche per Äxgüsi gleich mit. Später erzählt man uns, dass nicht viele Touristen den Weg hierher finden, angesichts dessen scheinen uns die Preise ziemlich saftig. Ein vorbeigehender Türke will uns deshalb zum Gratiscampen in den Stadtpark lotsen. Uns gelüstet aber nach ein bisschen Trockenheit und einer Dusche. Dies kaum mit Händen und Füssen mitgeteilt, gesellt sich ein zweiter Türke zu uns, telefoniert ein paar Minuten in der Stadt herum und schon haben wir für Fränkli 12.50 pro Person die geräumige Dachloge eines privaten Hostels im Sack, inklusive Deluxe-Terrasse. So läuft das hier!

Für den kommenden Tag droht die Wetterprognose mit heissen Temperaturen, wir starten deshalb so früh wie möglich und sind gegen Mittag bereits in der nächstgrösseren Stadt. Im Gegensatz zu meinem Reisepartner vermögen mich silbern glitzernde Moscheedächer noch immer zu einem Fotostopp hinreissen, doch just als ich den Auslöser drücke, stoppt neben mir ein Auto. Ein junger Türke fragt in perfekt britischem Akzent, wo wir denn herkämen? Er arbeitet als Banker in London und ist offenbar auf Besuch in der Heimat. Sofort werden uns Nüsse, Feigen und Früchte aus dem Autofenster gereicht, und als meine Hände voll sind, wird Christian herbeigepfiffen: Auch sein Velohelm wird gefüllt. Es folgen zwei Flaschen Wasser und viele wertvolle Tipps zur kommenden Route. Hätten wir nicht auf einem Hitze- und Teehalt bestanden, hätten uns die vier netten Herren sogar noch mit dem Auto zur Stadt hinaus eskortiert. Teşekkür ederim, ganz, ganz herzlichen Dank!

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Als wir uns 2 Tees, 1 Gewitter und 1 Schwatz mit einem Deutsch-Türken später an den steilen Aufstieg Richtung Berge machen, rufen uns Strassenarbeiter „Çay, Çay“ zu, doch diese Einladung zum Tee lassen wir sausen. Wo käme man da auch hin? 🙂 Die Steigung wird immer fieser, die Regenwolken haben sich längst verzogen und es wird bald schon wieder ziemlich drückend. Ich halte am Strassenrand für eine kurze Verschnaufpause, und schon stoppt neben mir ein Auto mit vier jungen Türken (mein langsam aufkeimender Verdacht: weniger als vier Personen sind in türkischen Autos gesetzlich nicht erlaubt). Sie fragen ganz besorgt, ob ich Hilfe brauche. So nett!

Wir holen uns die Hilfe selber, bei einem Chriesihändler am Strassenrand. Den prallen, roten Früchten können wir nicht widerstehen und wir bestellen ein halbes Kilo. Der Chriesi-Mann füllt uns einen Riesensack ab – definitiv viel mehr aus als ein halbes Kilo! – und schaufelt zum Schluss grad noch mal zwei Hände voller Früchte nach. Wir zücken das Portemonnaie, doch der Chriesi-Mann winkt ab. Er will partout kein Geld annehmen! So viel Gastfreundschaft an einem Tag, das macht einem schon ziemlich sprachlos. Wir schenken dem netten Bauern im Gegenzug einen Original-Lebkuchen und hoffen, die fremdländische Kolonialware habe ihm gemundet. Seine Chriesi auf jeden Fall munden uns später sehr, und sie versüssen uns ein rundes Jubliäum: 4000 Kilometer sind geschafft!

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Der nächste Morgen überrascht mich mit farbigen Kerzli und Kuchen. Ja, Geburtstag feiern in der türkischen Pampa hat seinen ganz eigenen Reiz: Man gönnt sich zur Feier des Tages ein Glacé mehr und freut sich wie ein König. Fast das grössere Geschenk jedoch ist das Wetter: Auf unserer heutigen Zwei-Pässe-Fahrt haben wir das Glück von Wolken, aus denen es just bei den ärgsten Steigungen angenehm auf uns niedersprüht, als wäre Petrus mit dem ganz grossen Zerstäuber unterwegs.

Die Landschaft ist wunderschön, und dank kräfitigem Rückenwind erreichen wir am Abend bereits Nallıhan, ein Provinznest mit touristischer Attraktivität der Klasse C. Kein Wunder, werden bei unserem Eintreffen sofort die Attraktion Nummer eins. Während Christian mit dem leider nur türkischsprechenden Hotelbesitzer verhandelt und Auskunft über unseren Zivilstand geben muss (einen Beweis über unser Verheiratetsein bleiben wir leider schuldig), bin ich drei Stockwerke weiter unten sehr bald umringt von der halben Stadtbevölkerung. Da leider niemand Englisch kann, bringe ich meine wenigen Türkischkenntnisse an den Mann und wir schauen gemeinsam auf die grosse Landkarte. Ah, von Istanbul nach Ankara fahren sie! Was, die wollen bis nach China? Soviel habe ich verstanden. Wie unser Projekt generell beurteilt wird, übersteigt dann aber leider meine Türkischkenntnisse.

Trotz unserem illegalen gemeinsamen Nachtquartier starten wir am nächsten Tag erholt in eine harte, aber wunderschöne Etappe. Die Szenerie wechselt von grünen Alpen auf Wüste mit farbige Felsen. Spätestens hier sind wir uns einig: Der Umweg, den wir uns mit dieser „Nebenroute“ zugemutet haben, war die zusätzlichen Höhenmeter (am Schluss werden es 5000 gewesen sein) definitiv wert. Da die Temperaturen stetig steigen, gelüstet uns am Etappenziel nach langem wieder einmal nach einem kühlen Bier: Das erste in der Türkei! Doch das Auftreiben dieses Teufelszeugs gestaltet sich schwieriger als gedacht. Gefühlte Stunden wandern wir durch die Strassen und finden den einzigen Alkoholhändler der Stadt. Das sündige Getränk wird flugs in ein schwarzes Plastiksäckli gepackt, auf dass niemand merke, mit was wir da rumlaufen. Wir finden das eher amüsant: Denn mit schwarzem Plastiksäckli laufen hier definitiv nur Leute herum, die Alkohol eingekauft haben. Und das sind eigentlich nur wir.

Am nächsten Morgen werden wir bei der Stadtausfahrt von einem Türken angesprochen, der gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. Sein Arbeitgeber ist eine offenbar landesweit bekannte Mineralwasserquelle, und er lädt uns zur Besichtigung ein. Leider liegt die Fabrik aber nicht am Weg, und da wir die zermürbende Wirkung von heissen Mittagstemperaturen auf den gemeinen Velofahrer kennen, verzichten wir schweren Herzens auf das verlockende Angebot.

Die fehlenden 110 Kilometer bis Ankara wollten wir eigentlich in zwei Etappen bewältigen und dazwischen in der lauschigen Ödnis der türkischen Halbwüste campen. Da uns der Wind aber mit voller Kraft in Richtung Hauptstadt schiebt, beschliessen wir, noch am gleichen Tag nach Ankara zu fahren. Was für ein Spiessrutenlauf! Die vierspurige Autobahn bringt uns in Stadtnähe, danach weichen wir auf Nebenstrassen aus. Doch irgendwann hatte Allah bei der Erschaffung der Erde wohl keine Nebenstrassen mehr übrig, und wir stecken zusammen mit den restlichen 4,6 Millionen Ankaraer im abendlichen Stau. Zum ersten Mal auf unserer Reise (mit Ausnahme von Albanien) ist der viele Verkehr wirklich bedrohlich, doch bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Plötzlich stoppt ein Polizeiwagen neben mir und man bedeutet mir, rauszufahren. Ups, was habe ich bloss angestellt? Offenbar nichts! Die netten Herren wollen nur wissen, ob bei mir alles in Ordnung sei, und fahren anschliessend beruhigt vor mir im Stau.

Ankara per se ist keine Reise wert, obwohl die Bewohner wirklich äusserst kontaktfreudig sind. Als wir auf der Plattform „Couchsurfing“ unseren Aufenthalt ankündigen, erhalten wir zig Einladungen zum Übernachten, zum Kafi, zum Znacht, zum Mitdemonstrieren im Park und sogar ein Angebot fürs Helfen bei der Visumsbeschaffung. Leider müssen wir die netten Angebote ausschlagen, dafür werden wir mitten auf einem Spaziergang von Marcel „de France“ angesprochen, der uns spontan fragt, ob wir Französisch sprechen? Wir bejahen (eigentlich zu Unrecht, wer unser lausiges Französisch kennt) und es stellt sich heraus, dass Marcel ebenfalls mit dem Velo Richtung China unterwegs ist. Was für ein lustiger Zufall! Spontan essen wir gemeinsam Znacht und erhalten dabei gute Tipps, wie man die turkmenische Botschaft findet. Marcel hofft darauf, am Folgetag endlich sein iranisches Visum zu erhalten. Wie wir später in seinem Blog lesen, ist es auch nach den Wahlen offenbar noch immer fast unmöglich, ein solches zu erhalten. Wir haben in letzer Zeit schon von vielen frustrierten Veloreisenden Richtung China gelesen, die derzeit erfolglos auf ein Iranvisum hoffen. Was für ein Glück, dass wir zumindest dieses schon in der Tasche haben!

Nach unserem ernüchternden Besuch in der turkmenischen Botschaft beschliessen wir, gleich am nächsten Morgen früh die Weiterreise Richtung Kappadokien anzutreten. Bereits um 6:50 Uhr sitzen wir auf den Rädern und hoffen, so den Morgenverkehr zu umfahren. Das gelingt uns zwar, doch bleiben wir trotzdem länger als gedacht in Ankaras Strassen hängen: Wir haben die Rechnung ohne die ewig lange 10%-Steigung bei der Stadtausfahrt gemacht.

Die 160 Kilometer bis zur nächsten nennenswerten Siedlung sind öde und leer: Willkommen in den unendlichen Getreidefeldern Zentralanatoliens! Auch diese Etappe wollten wir ursprünglich in zwei Tage aufteilen und eine Campingnacht in der Steppe einschalten. Doch wir haben gerade eine Phase mit glücklichem Wind, und auch die Temperaturen sind weniger arg als erwartet. Da uns nur wenige Fotostopps Fahrzeit stehlen, stehen wir bald darauf vor einem grossen, weissen Fleck in der Landschaft. Was von weitem aussieht wie eine Zürcher Seegfrörni, entpuppt sich beim näherer Inspektion als beeindruckend grosser Salzsee: Der Tuz Gölü. Fasziniert stiefeln wir mit vorwiegend türkischen Touristen in der Salzlake herum und staunen nicht schlecht, als wir plötzlich ein „Grüezi mitenand, sind ihr Schwiizer?“ hören. Ein Basler mit türkischen Wurzeln hat unsere grossen Schweizkleber gesichtet. Als wir am Abend nach getanem Tagewerk unseren Kilometerzähler sichten, staunen auch wir nicht schlecht. Unser bisheriger Rekord: 159 Kilometer!

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Anstatt den direkten Weg nach Kappadokien zu nehmen, machen wir einen kleinen Schlenker gen Süden und fahren zuerst in das weniger touristische, aber wunderschöne Ihlara-Tal. Als wir am frühen Nachmittag auf 1400 Metern Höhe in Güzelyurt eintreffen, schmilzt uns förmlich der Asphalt unter den Füssen, das Thermometer zeigt 42 Grad. Definitiv die richtige Temperatur, um die angenehm kühlen unterirdischen Städte zu erkunden. Diese alten Griechen wussten schon, wie man sich das Leben angenehm macht.

Die letzten 85 Kilometer vor Kappadokien bewältigen wir am bisher heissesten Tag. Schon am Morgen früh haben wir 29 Grad auf dem Zeiger, und es bläst ein fieser Gegenwind. Pünktlich zur allgemeinen Teer-Schmelze schaffen wir es trotz vielen Fotostopps nach Göreme, dem Mekka der berühmten Tuffstein-Formationen. Ja, wer hätte denn gedacht, dass dieses Mitteltürkien so pittoresk ist!

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PS. An dieser Stelle einmal ein ganz herzliches Dankeschön für eure zahlreichen, lustigen und aufmunternden Kommentare. Wir sind uns bewusst, dass für euch das abwechslungsreiche Kommentieren je länger desto schwieriger wird (Oh wie schön! Oh wie spannend! Oh, ihr armen!). Dennoch freuen wir uns immer ganz fest über eure Lebenszeichen: Für uns wie eine Postkarte aus der Heimat. Nur weiter so! 🙂

Ein Kommentar

  • Daniel Wulle

    Unglaublich diese Berichterstattung der letzten Tage, ausführlich, kompakt, spannend… Kommentare schreiben macht Freude😃!
    Danke für den Motivationsschub! Wenn es euch nicht langweilt, ist ja gut. Euer Drive mit den Spitzenkilometern an einem Tag ist 1A! Bei diesen Temperaturen – und trotz Fotostops und gästefreundschaftlichen Unterbrüchen… Kreatives, fruchtig-süßes 4000km-Jubiläum inszeniert 👍! Ihr seid Spitze und habt eine 👑 verdient! Freue mich auf das nächste Fotoalbum, gespannt auf eure Auswahl an Bildern…

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