Türkei

Auf Türkiens Strassen oder Das Psychogramm des türkischen Hupers

Göreme, Kappadokien! Vier wunderbare Tage verweilen wir in diesem atemberaubenden Naturtheater, tauschen die Velotaschen gegen den Rucksack ein und legen für einmal einige Kilometer zu Fuss statt per Rad zurück. Hier gilt mehr denn je: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“. Unsere Eindrücke sind deshalb in eine Bildstrecke eingeflossen. Der Wechsel zurück in den Veloalltag bedeutet vor allem: Fertig mit ausschlafen, Wecker in aller Früh, ein letztes ausgiebiges Frühstück und schon hat uns die Strasse wieder. Auf in den wilden Nordosten der Türkei! Der nächste Zwischenstopp soll Kayseri sein, eine Stadt mit einer Million Einwohnern und dem grössten Industriegebiet des Landes. Wie gewohnt geht es hügelig, aber zügig auf und ab. Plötzlich werden wir jäh aus unserem Rhythmus gerissen: Am Berg steht eine erbärmliche alte Klapperkiste, eine Familie versucht einigermassen erfolglos, diese an die Kuppe hochzuschieben. Unsere Gelegenheit, sich für all die türkische Gastfreundschaft zu revanchieren:

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Das Hochschieben des Wagens stellt sich als anstrengender als gedacht heraus, da Mama mit dem Kleinkind auf dem Arm nicht viel beitragen kann und Papa und der älteste Sohnemann sich nicht gerade als Sportskanonen herausstellen. Oben angekommen, springt der Göppel gleichwohl nicht an und es gibt lautstarken Zwist bei Türks – da kann ich leider nicht mehr helfen, wir haben ja nur Zweiradwerkzeug! Obwohl wir wenig später im Rückspiegel sehen, dass ein Lastwagenfahrer den Autotürks zu Hilfe eilt, steigt die Karre auch später mehrmals aus. Wir fahren immer mal wieder an der erneut gestrandeten Familie vorbei. Im Gegenzug hupt sie uns freundlich zu, wenn ihr Otomobil für ein paar Kilometer weiterfahren mag.

Am Tagesziel Kayseri gönnen wir uns an schönster Lage erst mal einen Kaffee, am Nachbartisch – wie könnte es anders sein – ein älteres Türkenpaar aus Deutschland auf Heimaturlaub. Mit Blick auf unsere Räder fragt er, ob diese Mercedes unsere seien? Wir grinsen überrascht: Nein, es sind natürlich BMW! Die Folgen dieses Wortwechsels: Das nette Paar bestellt uns einen Tee und es entspannt sich eine rege Diskussion. Als es politisch wird, wechseln wir schnell das Thema. Hier gilt wohl eine andere Sichtweise auf die kürzlichen Proteste: Das seien doch nur ein paar bezahlte Alkoholiker, die da demonstrieren würden…

Dank unserer frühen Ankunft bietet sich in der Grosstadt endlich die Gelegenheit, einen Fotospezialisten aufzusuchen. Unsere an sich hervorragende Systemkamera hat nämlich einen Nachteil: Der Bildsensor zieht beim Objektivwechsel magisch Staub an. Diesen mit unseren bescheidenen Werkzeugen wieder herauszukriegen, stellte sich bisher als Ding der Unmöglichkeit heraus. Ich mache mich also auf und wandere durchs Quartier, bis ich vor einem Fotostudio stehe, spezialisiert auf Hochzeitsfotos. Na immerhin! Drinnen werde ich ganz neugierig willkommen geheissen. Von der Strasse wird ein Herr hereingezerrt, der ein paar Brocken Englisch spricht. Aha, die Kamera muss innen gereinigt werden. Es wird übersetzt und diskutiert und telefoniert, bis plötzlich ein Rudel Jungs vor dem Stüdyo steht. Sie werden mich nun zum Fachmann begleiten. So beginnt mein Stadtrundgang von Kayseri, der mich in die verschiedensten Winkel und zu hübschen Sehenswürdigkeiten bringt, während wir über Fussballklubs, Atatürk, Ferien in Antalya, Fahrradfahren und natürlich Kayseri diskutieren (das alles notabene mit meinen gut 100 Türkischwörtern und etwas Englisch seitens der Jungs).

Irgendwann sind wir da, wir betreten ein kleines Geschäft und siehe da, der Besitzer begrüsst mich in per-fek-tem Deutsch. Nach kurzem Austausch über die Problemstellung behändigt ein Angestellter die Kamera, während wir über unsere Reise diskutieren. Nach einer Viertelstunde halte ich die gereinigte Kamera in der Hand, werde herzlich verabschiedet (selbstverständlich wird kein Geld für diesen Service genommen) und knipse sogleich das erste Bild ohne störende Flecken. Ehrensache, dass es ein Gruppenbild mit meinen netten Begleitern ist!

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Die Tage darauf sind geprägt von vielen Kilometern und Höhenmetern, Hitze, Pässen und wunderbaren Berglandschaften. Bis Erzurum fahren wir nun ohne Pausentag durch: Sieben Tage, 740 Kilometer, 5500 Höhenmeter, 37 Stunden im Sattel. Trotzdem bleibt immer genug Zeit für ein Schwätzchen unterwegs und für das Eintauchen in die so unterschiedlichen Städte und Dörfer. Das Pumpen unserer Pneus an der Tankstelle wird zur Einladung zum Tee, ebenso der Erwerb unseres Feierabendbiers beim Alkoholhändler im kleinen Dorf. Bei einer Baustelle entpuppt sich der Signalisationsmann als Neckermann-Reiseleiter, der während seinem Heimaturlaub für einen erkrankten Kollegen eingesprungen ist (das ist wahre Freundschaft!) und sich nun freut, mit uns ein bisschen Deutsch zu sprechen.

Auch die lokale Fauna lernen wir näher kennen, dieses Mal gar etwas nahe. Überholt uns am Berg ein Laster mit lauter Bienenstöcken darauf, die hier in den blumenreichen Bergen überall zu sehen sind. Ich scherze noch: Was, wenn so ein Bienenhaus vom Lastwagen fällt, just wenn er an uns vorbeibraust? Kaum gesagt, summt es in meinem Helm gar unfreundlich – da ist wohl wirklich die eine oder andere Biene entwischt und ziemlich sauer! Ich stoppe, ziehe den Helm aus und werde von einer wildgewordenen Biene attackiert. Alles wegrennen und fuchteln hilft nichts, sie erwischt mich über dem Auge. Nichts wie weg hier, wir schwingen uns auf die Räder und fahren ein kurzes Stück zurück den Berg hinunter zu einer nahen Tankstelle. Yvonne zieht den Stachel raus und wir verbringen die Mittagshitze erst mal auf einem Picknickplatz im Schatten, während meine linke Gesichtshälfte immer mehr anschwillt.

Glücklicherweise ist alles halb so schlimm, wie es aussieht, und da die wildromantische Berglandschaft lockt, stellen wir (trotz einiger Bedenken – unsere gebrochenen Zeltstangen lassen grüssen) wieder einmal das Zelt auf. Wir glauben uns in der absoluten Einsamkeit, doch es vergeht keine halbe Stunde, bis ein junger Mann daherstapft und uns mit Händen und Füssen bedeutet, dass wir doch in seinem Haus übernachten sollen. Das Zelt steht, die Stangen halten, wir lehnen deshalb dankend ab. Wir glauben, für heute Ruhe zu haben, als der nette Mann kurz darauf in Begleitung wieder anspaziert. Wie wärs mit einem Tee? Wir lachen, denn wir liegen schon in unseren Schlafsäcken: Gute Nacht!

Städte wie Sivas bieten uns jeweils eine willkommene Abwechslung zum Unterwegssein draussen in der Natur. Da wir jeweils sehr früh am Morgen starten, bleibt uns nach Ankunft genügend Zeit für ausgedehnte Besichtigungstouren. Sei es der Teegarten auf einem Hügel mitten in der Stadt, wo die Pärchen schmusen und rauschende Hochzeiten gefeiert werden. Sei es das schmucke Stadtzentrum mit unzähligen seldschukischen Bauwerken aus dem 13. Jahrhundert, wo im gedeckten Innenhof einer Madrasa (frühere Schule, wo einst islamische Wissenschaften gelehrt wurden) mit einem Hauch Geschichte am Tee genippt werden kann. Und natürlich bieten die vielen Restaurants immer wieder neue, uns unbekannte Speisen, die wir neugierig ausprobieren.

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Vor Erzincan erklimmen wir unseren bisher höchsten Pass auf 2200 m.ü.M. und werden dafür mit einer scheinbar unendlichen Abfahrt entschädigt. Die Osten der Türkei erinnert schon sehr an Zentralasien mit wilden Schluchten und unendlichen Ebenen, wo wir auch erste Nomadenzelte und dazugehörige Schafherden entdecken. Am Ende des Tages stellen wir fest: So viel Watt haben wir wohl noch nie verbraucht. Fast acht Stunden Fahrzeit, 150 Kilometer und 1500 Höhenmeter. Wow!

Kurz nach dem Start am nächsten Morgen können wir ein weiteres schönes Jubiläum feiern: Der fünftausendste türkische Verkehrsteilnehmer überholt uns wild hupend mit seinem Kraftfahrzeug! Wir gratulieren dem Lenker mit dem Nummernschild 36 AF 481 zur tollen Leistung. Gerne hätten wir ihm einen Blumenstrauss überreicht, aber er musste sich dermassen aufs Hupen, Winken und Schreien konzentrieren, dass er seinen Preis glatt verpasst hat.

Wir erleben ja die unterschiedlichsten Kategorien von Hupern und haben auch ein Gespür entwickelt, was uns bei der nächsten Vorbeifahrt erwarten könnte. Je östlicher wir kommen, desto eher wird das Hupen ersetzt durch wild-archaisches Herausbrüllen des Beifahrers. Ob dies daran liegt, dass die Hupe dieser Fahrzeuge nicht mehr so richtig will, können wir nicht mit letzter Sicherheit bestätigen – der Zustand der Autos unterstützt die These zumindest.

Wir gehen davon aus, dass keiner dieser Türken jemals direkt am Strassenrand ungeschützt von einem dauerhupenden Auto oder Lastwagen überholt wurde. Vielleicht würde der Freude über den Touristen auf dem Bisiklet dann auf etwas sanftere Art Ausdruck verliehen… Nach mehr als vier Wochen Türkei unterscheiden wir die folgenden Huper-Kategorien:

1. Der nette Huper. Zaghaft-sachte stupft er frühzeitig seine Hupe an, wir sind also vorbereitet und können zum Dank sogar nett zurückwinken.

2. Schon etwas weniger in unserer Gunst: Der Dauerhuper. Sobald wir auf seinem Radar erscheinen, wird beidhändig die Hupe niedergedrückt, als sei damit ein Krieg zu gewinnen. DüüüüüÜÜÜÜÜÜÜ-OOO-AAAAAAAaaaaaaaaa rauscht er an uns vorbei, die Hände dermassen verkrampft, dass ein Winken unmöglich ist.

3. Die Lastwägeler hingegen sind in mehrere Unterkategorien zu gliedern: Ein beträchtlicher Teil davon hat kräftig in die Akustik investiert. Statt einem monotonen Tröööt dürfen wir hier sophistizierten Melodien lauschen, sogar Vivaldi wurde uns schon gehupt! Die ganz fiesen aber, die warten in ihren LKW-Kabinen wie auf einem Hochsitz, auf dass das zweirädrige Reh hinterrücks erlegt werden kann. Der Brummi braust heran, und genau auf Ohrhöhe wird das Horn betätigt. WWWROOOOOAAAAMMMMM! Uns bleibt das Herz einen Moment lang stehen, wir kippen fast vom Velo und sehen den Chauffeur in seinem riesigen Rückspiegel nett winken. Vielen Dank aber auch!

Den Sonderpreis für den erheiternsten Huper aller Zeiten vergeben wir diskussionslos an das folgende Fahrzeug. Wir sind ja mittlerweile dermassen abgehärtet, dass wir gar nicht mehr hinschauen, was uns da eigentlich beschallt. Reflexartig heben wir einfach jeweils den Arm, die Hand oder auch nur den kleinen Finger. So auch hier: Der Klang der Hupe deutet auf einen eher kleinen Lieferwagen hin. Wir winken gelangweilt. Fährt das Ding vorbei, reagiert das Hirn irritiert – irgendwie passen Bild und Ton nicht zusammen! Zu flach, was da vorbeifährt! Potzdonner, es ist ein Panzerwagen. Tüüüüt!

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Am Tag 7 unserer Durchfahrt nach Erzurum sind wir rechtzeitig zum Znüni auf einem weiteren Pass, wo wir unseren obligaten Schnappschuss der zugehörigen Tafel machen. Auf der anderen Strassenseite stehen einige Lastwagen, denen der Aufstieg wohl nicht bekommen ist. Plötzlich steht einer der Fahrer vor uns und fragt, ob er ein Foto schiessen soll? Aber gerne! Damit nicht genug, er lädt uns kurzerhand zum Trucker-Zmorge ein. Zwei zusätzliche Klappstühle werden hervorgezaubert, und schon sitzen wir an der schattigen Seite des Lasters. Im aufgeklappten Seitenfach ist die komplette Küche untergebracht, der Tee dampft bereits und auf der Auslage stehen Brot, Oliven, Käse, Wurst, Honigwaben und Melone bereit. Soooo lieb! Cemal fährt mit seinem Truck regelmässig zwischen Istanbul und Turkmenistan hin und her und kennt jede Unebenheit dieser Strassen. Seine Familie lebt in Antalya, wo er aber nur drei Monate im Jahr verbringen kann. Die restliche Zeit ist er unterwegs, er war auch schon an allerhand Orten in Europa, bis nach Holland ist er schon gefahren. Nach einer langen, munteren Diskussionsrunde verabschieden wir uns – vielleicht sehen wir uns ja wieder, in Turkmenistan! Auf Wiedersehen, allahaısmarladık!

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3 Kommentare

  • Kurt Wulle

    Wir Schweizer brüsten uns gerne mit unseren 4einhalb Tausender.
    Und unsere beiden Radhelden fahren im türkischen Hinterland immer näher Richtung Mount Ararat, der mit seinen 5137m ein paar hunder Meter höher als der Mont Blanc ist.
    Schon auf dem autoschieben Bild fällt ein riesiger Berg im Hintergund auf. Erzurum, mit etwa 368´000 Einwohner etwa so gross wie unsere grösste Schweizer Stadt ist ja ein Skigebiet und liegt auf fast 2000m Höhe. Höher als St. Moritz (!).

  • Alles mit S...

    Städte, Sauhitze, Strapazen, Stachel, Stangen (Zelt), Staub (Kamera), Studio (Foto), Speisen, Schatten, Sattel, Stunden, Statistiken usw…

  • Daniel Wulle

    Apropos S: Schweiz und Sommer und Sonne! Endlich STABIL! Beeindruckend, was ihr für Statistiken führt… Und Danke Kurt für deine recherchierten Infos im vorletzten Kommentar, interessant…

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