Iran

Ramadan

In der Nacht, bevor der Ramadan beginnt, schlafe ich schlecht. Ich träume, das öffentliche Leben würde von einem Tag auf den anderen komplett lahmgelegt. Die Strassen leergefegt, keine Bauarbeiter mehr, die in der Baustelle nebenan lärmen, niemand sitzt mehr im Teehaus, alle Läden sind geschlossen und kein lustiger Früchtehändler steht mehr mit seinem Holzkarren auf der Strasse – kurzum, das Leben einen Monat lang im Stillstand. Was für ein Albtraum!

Als wir am Morgen des 9. Juli erwachen, scheint alles so wie sonst. Wir öffnen den Vorhang, und draussen hämmern fröhlich die Bauarbeiter in der prallen Sonne. Als wir das Hotel verlassen, winkt uns der Früchtehändler hinter seinem Berg Melonen zu, die Läden sind wie gewöhnlich offen, die Leute kaufen ganz normal ein und die Männer sitzen wie immer beisammen im Teehaus. Der einzige Unterschied: Sie sitzen vor leeren Tischen. Wie absurd das aussieht! Das ist wie wenn in der Schweiz Ramadan wäre, und trotzdem sässen alle in der Gartenbeiz, um „nichts“ zu konsumieren…

Als wir auf unserer nächsten Etappe an einer kleinen Tankstelle ganz verschämt etwas Kaltes zu Trinken kaufen, getrauen wir uns nicht, es gleich vor Ort in unsere ausgetrockneten Kehlen zu stürzen. Doch mit Erstaunen stellen wir fest: Da sitzt Herr Türke fröhlich im Hinterzimmer und … trinkt Tee! Einen Monat lang während dem Tag nichts trinken, nichts essen und nicht rauchen? Denkste! Während wir versuchen, unsere Trink- und Esspausen möglichst im Versteckten zu verbringen, orten wir bei unseren Muslim-Kollegen einen Regelverstoss nach dem anderen. Wir sehen junge Männer beim Rauchen, treffen Bauarbeiter beim Snack-Einkauf im Lädeli, erhalten beim Teppichhändler im Hinterzimmer Wasser und Tee, die Lastwagenfahrer halten ihre Teetassen in voller Fahrt keck aus dem Fenster, und irgendwann finden wir heraus, dass gewisse Restaurants auch am Tag geöffnet haben und im Untergeschoss oder im 1. Stock weiterhin Essen servieren.

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In der Deckung des Stromzählers beim heimlichen Trinken erwischt!

Ramadan, oder Ramazan wie man hier sagt, heisst: Während 16 Stunden, also zwischen Sonnenaufgang (ca. 4:30) und Sonnenuntergang (ca. 20:30 Uhr), ist das Essen und Trinken für Frauen ab 9 Jahren und Männer ab 15 Jahren untersagt. In anderen Ländern kann das auch länger oder kürzer sein. Pech zum Beispiel hat, wer den Ramadan am Polarkreis verbringt, erklärt uns ein junger Türke grinsend. Nun wissen wir auch, weshalb die Muslimdichte in dieser Region so klein ist. 🙂

Besonders im Iran ist das Essen in der Öffentlichkeit im Ramadan gesetzlich verboten und Restaurants müssen während des Tages geschlossen bleiben. Trotzdem scheinen uns die Regelverstösse hier noch fast krasser: Quasi jeder, den wir fragen, sagt uns, er faste nicht. Wenn wir wissen wollen wieso, sind die Ausreden mannigfaltig: „Ich bin krank – ich habe Magenprobleme!“ „Ich bin dagegen“ „Es ist zu heiss!“ oder: „Ich bin Student, ich kann unmöglich fasten!“. Beim Basar in Teheran bildet sich vor einem Kiosk, der kalte Getränke verkauft, eine lange Schlange, ein Bazari verkauft heissbegehrte Sandwiches und im Park sitzen einige Teheraner ganz ungeniert und machen Picknick.

Ob es am Ramadan liegt oder ob es immer so ist, wissen wir nicht: Tatsächlich ist die Nahrungsmittelbeschaffung im Iran aufwändig und manchmal auch frustrierend. Das Konzept des Supermarkts ist bis auf wenige Ausnahmen gänzlich unbekannt. Für jede Warenart muss im eigenen Lädeli eingekauft werden. Das Brot beim Beck, das Süssgebäck beim Confiseur, der Frischkäse beim Lebensmittelhändler, die Früchte beim Gemüsehändler, die Kartoffel-Chips am Kiosk. Ausserdem scheint Brot Mangelware. Kaum hat ein Bäcker seinen Lehmofen angefeuert und verkauft seine frischgebackenen, runden Fladenbrote, bildet sich eine Warteschlange und die Iraner tragen gleich stapelweise davon nach Hause.

Die Zahl der nichtfastenden Iraner variiert, je nachdem, wen wir fragen. Die meisten tippen auf 60 bis 80 Prozent. Ob diese Schätzung danebenliegt oder nicht, können wir nicht beurteilen. Unbestritten ist aber, dass eine „Lücke“ im Ramadan-Gesetz ziemlich schamlos ausgenutzt wird: Reisende sind vom Fasten ausgenommen. Auf Busfahrten werden deshalb Guezli und Saft verteilt, und es wird fröhlich gegessen, getrunken, geraucht. Im Hotel gibt es wie gewohnt Frühstück, und das nicht nur für Ausländer. Und an einem Busbahnhof werden wir Zeuge eines seltsamen Spektakels: Ein älterer Herr braust mit seinem Töff an, kauft sich eine Glace, isst sie genüsslich und fährt wieder nach Hause. Ob Allah das wohl mit „Reisender“ gemeint hat?

Es ist vermutlich auf der ganzen Welt gleich. Ist bei uns Weihnachten noch ein Fest der Einkehr und der spirituellen Rückbesinnung? Genau so ist es hier. Auch hierzulande ist während der Fastenzeit eine zunehmende Konsum- und Shoppingwut zu beobachten. Obwohl man heuer erst das Jahr 1392 schreibt, sind die Iraner (wohl sehr zum Bedauern der Mullahs) beileibe nicht mehr im Mittelalter und sie sagen sich bei 40 Grad Aussentemperatur doch ganz einfach: Ramazan, Schmamazan!

Ein Kommentar

  • Ursi

    Unglaublich, wie viele Fotos ich jetzt schon von Yvonne mit Vorhang gesehen habe, von der sagenhaften Frisur in Istanbul habe ich aber, ausser den unglaublich attraktiven Alufolien nichts gesehen… Wars so schlimm??
    Mit viel Begeisterung lese ich euren Blog (in unseren Ferien hatte ich endlich Zeit). Vielen Dank, dass wir an eurer Reise teilhaben dürfen, ihr die vielen Begegnungen und Erfahrungen mit uns teilt.
    Ich denke oft an euch und drücke euch die Daumen, dass ihr weiterhin unbeschadet radeln könnt.
    Liebe Grüsse
    Ursi

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