Zentralasien

Einmal Infusion, bitte!

Eines haben wir uns vor unserer Reise fest vorgenommen: Was auch immer passiert, ob ein Bein fehlt oder sonst etwas – wir gehen ganz sicher NIE in ein zentralasiatisches Spital! Dass es doch so weit kommen muss, ist ein Zeugnis des feinen Humors des Schicksals. 🙂

Ich hätte nie geglaubt, dass es möglich ist, dass der Körper aus mehr oder weniger heiterem Himmel aus Erschöpfung streikt. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich am Morgen unseres achten tadschikischen Radeltages mit extrem kräfteraubenden Etappen auf schlechten Pisten bei zermürbender Hitze schon am frühen Morgen verzweifelt zu Christian sage: „Hilfe, ich glaube, man kann aus Erschöpfung sterben!“

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Immer und immer wieder haben wir uns gesagt: Ach komm, lass uns diese Kilometer noch fahren – was gemacht ist, ist gemacht. Keine Pause haben wir uns gegönnt, weil die Deadline unseres Chinavisums wie ein dunkler Schatten über uns lauerte. Wohl ein grosser Fehler. Denn das Warnzeichen kam zu spät. Nur wenige hundert Meter später merke ich, wie sich in meinem Kopf alles dreht und wie die nackte Panik aufsteigt. Ich weiss, dass ich keinen Meter mehr fahren kann; der Kreislauf streikt und mir ist unglaublich schlecht. Ich liege im Staub unter der notdürftig aufgespannten Zeltplane und fühle mich unendlich hilflos. Ein Moment, den ich lange nicht vergessen werde.

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Als endlich ein LKW-Fahrer anhält und uns mitnimmt, fallen mir mindestens zwei Tonnen Steine vom Herzen. Dass es der Frau im lila Velo-T-Shirt wohl nicht wegen Magenproblemen schlecht geht, können wir in unserem holprigen Russisch nicht erklären, und aus lauter Mitgefühl drückt mir unser netter Truckfahrer zwei Tabletten in die Hand. Sofort schlucken und keine Widerrede, deutet er – er hat wohl Erfahrung! Naja, denke ich mir, wird wohl nicht schaden, und werfe das Zeugs ein.

Die nächsten drei Tage fühle ich mich gar nicht so schlecht. Zwar sind meine Muskeln leer und die Hände und Beine zittrig, doch ich esse wie ein Matrose und erhole mich super. Wir haben ein nettes Zimmer mit SAC-Hütten-Feeling in der Pamir Lodge, wo sich die Überlandreisenden treffen und Erfahrungen sowie neuste Informationen austauschen. Wie zum Beispiel, dass der nahe Grenzübergang nach Afghanistan wegen Cholera geschlossen sei, oder dass in Kirgistan am Yssykköl-See die Pest ausgebrochen ist. Ups! Am Morgen des vierten Ruhetags wollen wir deshalb weiterfahren: Der berüchtigte Pamir Highway wartet! Dessen grösste Herausforderung sei die Anfahrt; ab hier sollte die Strasse besser werden, erzählen sich die Radreisenden. Doch als der Wecker klingelt und wir still und noch müde ein Birchermüesli in uns reindrücken, steigt wieder Panik in mir hoch. Der Gedanke, erneut hilflos am Strassenrand zu stranden, jagt mir Schauer über den Rücken. Unmöglich, so weiterzufahren! Am nächsten Morgen das gleiche Spiel, doch ich reisse mich zusammen. Ich rede mir ein, dass dies alles nur psychisch bedingt sei, und wir starten deshalb einen Versuch. Zehn Kilometer später fühle mich bereits hundeelend. So bitter es ist, wir müssen zurück in unser Refugium, wo mindestens die Hälfte der Traveller mit Magenproblemen darniederligen. Mir geht es magentechnisch super, nur leide ich dafür unter mysteriösen Symptomen…

Die weiteren Tage gönne ich mir strikte Ruhe. Kein Wäschewaschen, kein Veloflicken oder Ausflüge zum Basar oder dem tollen indischen Restaurant mehr. Zusammen mit unseren Radlerkollegen Daniela & Christian aus Österreich sowie Ria & Oliver aus Deutschland verbringen wir dafür nette Abende bei selbstgekochten Curry-Kartoffeln mit Rüebli. Welcome to the Pamir diet!

Insgesamt neun Nächte werden wir in Khorog, der Provinzhauptstadt direkt an der afghanischen Grenze, verbringen – es ist unser längster Aufhenthalt an einem Ort. Und anstatt dass es mir wie den armen Magenpatienten von Tag zu Tag besser geht, gehts bergab. Mitten am Tag befällt mich der Schwindel, ich habe konstant einen Druck im Kopf und das Herz klopft wie wild. Höhenkrankheit auf 2000 Meter über Meer? Eisenmangel? Infektion als Folge des mysteriösen Mückenstichs vor einer Woche? Immer noch Erschöpfung? Unsere Selbstdiagnosen sind so mannigfaltig wie vermutlich falsch. Mit jedem Tag wächst unsere Ratlosigkeit und Verzweiflung. Wir sind je 600 Kilometer von den nächstgrösseren Städten entfernt: Wie kommen wir bloss je wieder von hier weg?!? Der nette Lodgebesitzer Saïd rät uns, einen Doktor zu konsultieren. Obwohl just in diesen Tagen der Naionalfeiertag der Tadschiken ist und alle frei haben (Murphy lässt grüssen), sei das lokale Spital geöffnet, und da gäbe es einen pakistanischen Arzt, der Englisch spreche…

Wir machen uns also auf die Suche und landen… in der Onkologie. Es ist die einzige Baracke im Umkreis von einem Kilometer, die aussieht wie ein Spital. Wir treten ein und finden uns in einem abgewetzten, schäbigen Flur wieder. Fluchtartig verlassen wir das Gebäude; hier will man sich auf keinen Fall behandeln lassen! Wo das richtige Spital sei, können uns die Krankenschwestern nicht erklären. Irgendwann landen wir am korrekten Ort: Vorne im Park sitzen Tadschiken in Pantoffeln rum und es fühlt sich an, als wäre man in einem Sanatorium oder im Garten einer psychiatrischen Klinik gelandet. Wir nehmen eine zufällig gewählte Seitentür, denn so etwas wie einen Empfang oder Haupteingang gibt es nicht. Die Krankenschwestern sind überfordert als wir „Doctor, doctor“ sagen und noch etwas von „Angleiski“ und „Pakistani“. Sie winken uns mitzukommen, denn irgendwo sitzt eine Patientin, die Englisch kann. Als wir einen Blick in das Spitalzimmer erhaschen, haut es mich hindersi fast wieder raus: Hier sieht es schäbiger aus als in unserer Backpackerabsteige!

Wir brechen das Experiment ab und gehen nach Hause. Doch auch am nächsten Tag befallen mich seltsame Schwindelanfälle, ich schnappe nach Luft und mein Herz rast. Die Entscheidung fällt ziemlich rasch, alles eine Frage des Leidensdrucks, haha: Zurück ins Spital! Die netten tadschikischen Krankenschwestern sind auf dem Diagnosetisch gerade fürstlich am speisen und laden uns ein, dazuzusitzen. Wir lehnen dankend ab, wir haben gerade andere Probleme! Eilig wird weggeräumt und natürlich spricht kein Schwein Englisch. Der pakistanische Arzt ist eine Fata Morgana, und so wird mit Händen und Füssen gefragt, was mir denn fehle. Ich male sturme Kreisli in die Luft und die Dame nickt eifrig. Sie holt ein Bluckdruckmessgerät heraus und keine Sekunden später schaut sie wissend auf: Aha! Ein zu hoher Blutdruck! Ich muss lachen. Erstens bin ich noch ausser Atem vom Laufen und zweitens bin ich schon in der Schweiz nervös wie ein Pferd, wenn ich einen weissen Kittel sehe. Man addiere dazu den Faktor „zentralasiatisches Spital“ – kein Wunder habe ich einen Blutdruck von 150/90.

Da wir uns nicht einsichtig zeigen, wird der Arzt auf Pikett gerufen. Es ist ein gemütlicher zentralasiatischer Opa (in der Schweiz wäre er garantiert Pfeifenraucher) und er lässt sich von der einzigen englischsprechenden Apothekenmitarbeiterin den Sachverhalt übersetzen. Herr Doktor nimmt – oh Überraschung – das Blutdruckmessgerät zur Hand und misst nochmals. Keine Sekunden später nickt auch er wissend: Ein zu hoher Blutdruck, ganz klar! Das Wetter und die Höhe seien Schuld. Da müssen wir sofort eine Infusion machen, übersetzt uns die Apothekerin. Ich gurgle hysterisch: Infusion!??? Nur über meine Leiche!

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Obwohl dem Herr Doktor Widerspruch einer Patientin gar nicht gefällt, insisitieren wir auf einer anderen Ursache und fragen nach einem Bluttest. Herr Doktor rollt die Augen und schickt uns ins Diagnosecenter. Als ich einige Minuten später auf einem Bürostuhl sitze und die Dame die Nadel in meinen Arm stechen will, bin ich nahe einer Ohnmacht. Da sitze ich nun, genau da, wo ich nie landen wollte, in einem zentralasiatischen Spital! Nachdem mir Christian versichert, dass die Nadel neu und steril ist und die Dame gar das Prinzip der Desinfektion kennt, schliesse ich die Augen. Ein Stich in meinem Arm, aber oh làlà, Fehlschuss. Beim zweiten Stich ist die Ader gefunden, und ich lebe noch.

Mit dem Resultat der Untersuchung in den Klauen stapfen wir zurück zum Herr Doktor, der eiligst herbeigerufen wird. Für ihn ist der Fall klar: Alles normal! Eben doch der Bluthochdruck, meint er, und hebt warnend den Finger: Auf keinen Fall in diesem Zustand ins auf 3600 m.ü.M. gelegene Murghab fahren. Schnell ist ein Fresszettel gefunden, auf dem mir zwei Medikamente verschrieben werden. Was das denn sei, frage ich als aufgeklärte Patientin. Bluckdrucksenkende Pillen und etwas zur Beruhigung. Macht der Mann Scherze? Da kämpfe ich mit meinem Kreislauf und der Herr verschreibt mir Baldriantabletten…?

Als wir bezahlen wollen, trauen wir unseren Augen kaum: Der Bluttest macht Franken 2, die Medikamente 30 Rappen und der Arzt will partout nichts annehmen. Für diesen Betrag hätte bei uns die Arztgehilfin nicht einmal kurz eingeatmet!

Der Schock eines zentralasiatischen Spitalbesuchs war offenbar heilsam. Und vielleicht war Väterchen Arzt doch weiser, als wir glaubten. Denn mit einer Baldriantablette intus brechen wir an unserem zehnten Khorog-Tag auf, genau da hin, wo wir nicht hin sollten: Über einen Pass von 4300 Metern ins 300 Kilometer entfernte Murghab auf dem Pamir-Plateau, dem dem „Dach der Welt“…

3 Kommentare

  • irgendlink

    Uiuiui. Das hört sich dramatisch an. Gutes Weiterradeln. Leider ist die eigene Psyche ein unbarmherziger Gegner. Da hilft wohl nur, sich die Rettungsanker im Kopf selbst zu basteln. Mögen schöne Lodges und englischsprechende Doktoren euren Weg säumen.

  • Sofasophia

    Ich lese erst neu hier mit und bin somit grad auf ziemlicher „Höhe“ und bei höchst dramatischen Ereignissen eingestiegen. Ich drücke dir die Daumen, dass es dir weiterhin besser und bald wieder ganz gut geht und das Ganze nur eine vorübergehende Krise war.
    (Gegen Herzrasen und Panik könnte allenfalls auch Weissdorn helfen?)

    Ich bin schon gespannt auf die Fortsetzung!

  • emu

    Hoi zäme, falls ihr aus der CH etwas braucht (telemedizinsche Zweitmeinung, Übersetzungsdienst oder Medis), schickt mir ein SMS. Ich kann alles organisieren. Wie ich das einschätze, macht ihr alles richtig: Selber überlegen. abwarten, die Lage einschätzen. Traut nicht dem Internet und auch nicht jedem Arzt. Vor jeder Etappe einen Plan B überlegen. Telefonnummer vom Hostel behalten, von dem ihr aufbrecht. GGf. Telefonnummer von Hostel oder Polizei am Zielort. Bis ihr wieder 100% fit seid. Ihr dürft euch unterschätzen, aber nicht überschätzen. Ihr werdet das schon schaffen!

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