China

Welcome to China?

China ist anders. Ob kulinarisch, kulturell oder im täglichen Umgang – selten war das Angewöhnen an ein neues Land so herausfordernd wie hier. Nachdem wir in Kirgistan kräftig in die Pedale getreten sind, stehen wir am späten Nachmittag des zweitletztmöglichen Tags zur Einreise ins Reich der Mitte an der Grenze. Hier gelten zwei Zeitrechnungen: Alle offiziellen Stellen richten sich bereits nach der fernen Pekingzeit, was uns einen wahren Zeitsprung von drei Stunden beschert. Die lokalen Uiguren pfeifen allerdings auf Peking und haben inoffiziell ihre eigene Zeitrechnung, die besser zu Tag und Nacht passt. Aber eben, für die Grenzer gilt Peking und wir haben nicht mehr viel Zeit für die Formalitäten. Kommt dazu, dass bei diesem ersten Checkpoint nur das Gepäck geprüft wird. Den Einreisestempel erhält man erst gut 150 Kilometer weiter im Landesinnern.

Je ein Soldat wird uns zugewiesen, um unsere total zwölf Taschen genauestens zu durchwühlen. Meiner ist besonders dienstfertig und schaut sich wirklich jeden Krümel an. Der Sack tadschikische Teigwaren, ein Paar Wollsocken: Alles will intensiv betatscht oder beschnüffelt werden. Der Computer wird gestartet und nach verbotenen Bildern oder Schriftwerken durchsucht. Mit der deutschen Sprache kommt der Bursche dann aber nicht so gut zurecht, und so endet diese Massnahme bald erfolglos. Yvonnes Polizist hingegen schnappt sich ihre Kamera und schaut sich in aller Gemütlichkeit die Bilder an. Unsere ganze schöne Reise spult rückwärts am Beamten vorbei: Die Anfahrt zur Grenze – Kirgistan – die Jeepfahrt – der Pamir Higway… wir fragen uns schon, wie lange er braucht, bis er in Griechenland angekommen ist, da zuckt er beim Bild eines gestrandeten chinesischen Lastwagens sichtlich zusammen und eilt damit sofort zu seinem Vorgesetzten. Uns haut es fast den Deckel vom Teekrug: Hey, her mit unserer Kamera! So weit also geht die Zensur in China!

Nun haben sich die Chinesen eine weitere hübsche Beschränkung für Individualreisende ausgedacht. Die Strasse bis zur Immigration sei zu schlecht und zu gefährlich, deshalb dürfe sie nicht mit dem Velo befahren werden. Aha. Wir wissen von anderen Radlern, die vor wenigen Wochen deshalb mit einem Lastwagen gratis und franko mitfahren durften bzw. mussten. Also los, Trucks hat es hier ja mehr als genug! Meiyou, nein, sagt der Uniformierte. Meiyou. Das chinesische Zauberwort, das wir noch oft hören werden. Wir müssten ein Taxi oder einen Bus nehmen. Und selbstverständlich müssen wir es auch selber bezahlen und selber organisieren. Praktischerweise steht gerade ein perfekt englischsprechender Tourguide herum, der uns oberfreundlich willkommen heisst und uns seine Hilfe für alle Fälle anbietet. Sein Bus hat gerade eine Gruppe Touristen hierhergebracht und fährt nun leer zurück nach Kashgar – das passt ja wunderbar! Schon wird uns beim Einladen des Gepäcks geholfen und ehe wir uns versehen, fährt der Bus los. Da sei noch ein klitzekleines Detail, zwitschert unser Guide, während sich der Bus in Bewegung setzt. Ja? Wir müssten für die Fahrt natürlich etwas bezahlen. Obwohl wir nicht gewillt sind, für diese Zwangsfahrt auch nur einen einzigen roten Heller locker zu machen, fragen wir nach dem Preis. 175 Dollar. Da ist bei uns fertig lustig. Wir zahlen doch nicht diesen Wucherpreis, wenn es per Truck kostenlos geht. Der Bus dreht eine Runde um das Zollgebäude und beim freundlichen Chinesen ist jetzt auch fertig freundlich. Hässig wirft er uns an den Kopf, wenn wir nicht zahlen wollten, müssten wir halt hier übernachten. Wir kochen innerlich noch ein paar Grad mehr, der Bus rauscht leer davon und wir versuchen es mit weiteren Verhandlungen. Der eine Soldat kann leidlich Englisch und ich zeige ihm das E-Mail der Kollegin, die vor kaum drei Wochen zusammen mit vier weiteren Radlern mit einem Truck mitfahren konnten. Er scheint verständnisvoll, wendet sich nochmals an seinen Vorgesetzten. Der kann jedoch nur Meiyou. Für heute ist also Schluss, wir kommen sowieso nicht mehr rechtzeitig zur Immigration.

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So kommen wir zu einer Premiere, die wohl in kaum einem anderen Land denkbar wäre: Wir müssen unser Zelt direkt vor dem Zollgebäude aufschlagen und unsere Nacht im Niemandsland verbringen – den Ausreisestempel von Kirgistan bereits im Pass, ohne nach China einreisen zu dürfen. Danke China! Nächstentags machen wir uns früh reisefertig, möglicherweise fährt ja ein internationaler Bus aus Bishkek ein. Und so ist es dann auch: Beim Einrollen der Schlafsäcke rauscht ein Bus heran. Schnell das Zelt abbauen und ab auf den Bus! Zusammen mit einem munteren Trüppchen Kirgisen nehmen wir die verbotene Strecke in Angriff. Und siehe da: Wir rollen erhaben über eine nigelnagelneue Strasse und es gibt keinen ersichtlichen Grund, weshalb hier nicht ein Fahrrad durchfahren könnte. Grrrrrr!

Unterwegs dürfen wir an unzähligen weiteren Checkpoints unsere Pässe zeigen, bis wir nach langer Fahrt zum pompösen Immigration-Komplex gelangen. Gelangweilt durchleuchten ein paar weitere Chinesen unsere Taschen, erneut ohne erkennbare Resultate. Weil schon wieder viel Zeit ins Land gestrichen ist, fahren wir mit dem Bus gleich bis Kashgar durch, wo wir in der Jugendherberge ein fast palastähnliches, riesiges Zimmer mit wunderschönen Holzverzierungen im uigurischen Stil beziehen.

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Kashgar. Welch ein Gegensatz zum kargen Zentralasien der letzten Wochen! Auf den Strassen der schmucken uigurischen Altstadt türmen die Händler in schier unendlichen Mengen Obst und Gemüse auf, aus den vielen Holzöfen duftet frisches Brot, an jeder zweiten Ecke werden Teigtaschen und weitere Leckereien frisch hergestellt. Dazwischen drechselt der Tischler kunstvolle Holzsäulen, gibt der Schmied seinen Messern den letzten Schliff und hämmert der Spengler Töpfe, Zuber und allerhand sonst aus Kupfer und Blech zurecht. In den chinesisch dominierten, riesigen Alleen kommt es noch dicker: Konsumrausch bis zur Ohnmacht. Ein Geschäft reiht sich ans andere, von den Fastfood-Fritten neben der Luxuspatisserie über teure Modelabels bis hin zur neuesten Unterhaltungselektronik gibt es hier für Geld alles zu kaufen. In riesigen Supermärkten braucht man fast ein GPS, um sich nicht zu verlaufen. Der Kulturschock ist perfekt!

P1090448Wir kommen anfangs mit dem Überfluss an all den Waren und Lebensmitteln fast nicht zurecht, geniessen es hingegen, unsere Gaumen wieder mal so richtig zu verwöhnen. Am stimmungsvollsten geht das auf dem Nachtmarkt, wo Berge von Nudeln, Gemüse und so ziemlich jedes Körperteil von Schafen, Hühnern und Kühen zum Verzehr angeboten werden. Wir setzen uns auf einen Schemel vor dem jeweiligen fahrbaren Essensstand und kriegen für umgerechnet nicht mal 1 Franken eine Schüssel köstliche Nudeln. Diese sind so frisch wie wohl nirgends sonst: Sie werden von der Marktfrau quasi auf Bestellung von Hand auf die richtige Grösse gebracht, ins heisse Wasser geworfen und mit den weiteren Zutaten vermengt. Fertig ist die Nudelsuppe!

Wir gönnen uns alle Zeit der Welt, bringen unsere Ausrüstung auf Vordermann, waschen unsere vom Pamirstaub verdreckten Kleider und schlendern durch die Stadt. Die „richtige“ uigurische Altstadt auf dem Hügel ist nur noch ein Schatten ihrer Selbst, auf chinesisches Geheiss wurden schon fast alle alten Lehmhäuser, die hier seit dem 16. Jahrhundert stehen, abgerissen und durch moderne Beton- und Ziegelsteinbauten ersetzt. Eine Tafel an einem chinesischen „Big Ben“ erinnert an diese Wohltat, die im Namen der Sicherheit und Hygiene erfolgt: „…achieving the goal of seismic prevention and disaster alleviation, facilities perfection, improvement in living standard as well as inheritance and enhancement oft he Uyghur style and flavor.“ Wir diskutieren lange, ob das nun Entwicklungshilfe oder Imperalismus ist – vermutlich ist es eine Mischung von beidem. Bestimmt gibt es den einen oder anderen Einheimischen, der ein modernes Haus mit Strom- und Wasserversorgung seiner alten Hütte vorzieht. Viel erschreckender scheint uns, mit welcher Wucht ganze Satellitenstädte mit gesichtslosen Hochhäusern hochgezogen werden, in denen dann Han-Chinesen aus dem fernen Osten mit den Verlockungen auf Arbeit und günstigem Wohnraum angesiedelt werden. Hier spielt sicherlich die Verdrängung der unerwünschten „fremden“ Kultur mit. Dennoch erweckt uns die Stadt den Eindruck eines friedlichen, wenn auch separierten Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen.

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Auf dem Basar – dem mutmasslich grössten in ganz Zentralasien – gibt es thematisch schön gruppiert alles, was das Uigurenherz begehrt. So ein Fuchsfell mit zugehörigem Kopf wäre zur Winterszeit doch ein idealer Halswärmer? Wir haben aber ja noch viele Kilometer vor uns und verzichten auf unnötigen Ballast, erstehen aber den Überraschungspreis für den Gewinner unseres letzten Wettbewerbs, einen schmucken Uigurenhut.

Dann kommt der Sonntag. Kein Aufenthalt von Kashgar ohne Besuch des sonntäglichen Viehmarkts ausserhalb der Stadt! Zusammen mit drei weiteren Radlern pedalen wir hin. Auf einem riesigen Feld kommen wohl jeder Viehzüchter von nah und fern und natürlich die Käufer der armen Viecher zusammen, um Stier, Geiss, Schaf, Esel und sogar Kamel gegen Geld zu tauschen. In Reih und Glied sind die Ziegen an langen Schnüren zusammengebunden, man erkennt kaum noch das Individuum. Es wird hart gefeilscht und die Ware wird vor dem Kauf genauestens begutachtet – einem gekauften Gaul darf man durchaus ins Maul schauen! Für ein paar wenige Schafe ist der Marktplatz bereits Endstation – sie enden frisch geschlachtet in einer der Garküchen, die den Handelsplatz säumen. Den meisten steht jedoch eine abenteuerliche Fahrt auf jedwelcher Art Fahrzeug bevor, ehe sie dann in irgendeiner Kombüse das Zeitliche segnen und allenfalls noch ein paar Stunden auf Kashgars Strassen, von Fliegen umschwirrt, an einem Fleischerhaken baumeln.

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Haben wir die ersten Tage noch schönsten Sonnenschein, zieht bald ein Sturm über die Taklamakan-Wüste und legt auch über Kashgar einen feinen, nebelartigen Sandschleier. Zeit zum Aufbrechen! Da wir definitiv genug Wüsten gesehen haben, beschaffen wir uns Tickets für eine zweitägige Busfahrt durch die Einöde Taklamakans. Gerade noch rechtzeitig vor der ersten Oktoberwoche, in der tout Chine Urlaub hat und ein Vorankommen mit öffentlichen Verkehrsmittel zu einem Ding der Unmöglichkeit werden kann. Wir decken uns also mit allerhand Nahrungsmitteln und Getränken ein für die Fahrt ins Ungewisse. Morgens um 11 Uhr geht es los, die Taschen und Räder rein in den Bauch des Busses und wir auf die Pritschen oben drin. Drei Reihen auf zwei Ebenen davon gibt es, kaum 180cm lang und mit einem unangenehmen Knick drin, bezogen mit einem schmuddeligen Tuch und bestückt mit einer Wolldecke. Hier sollen wir unsere nächsten rund 44 Stunden verbringen. In den Gängen stehen grosse Eimer für den Müll – und vor allem auch dafür, dass die Chinesen unter lautem Gerotze reinspucken können. Wir richten uns häuslich ein und harren der Dinge, die da kommen. Im Schneckentempo geht es aus der Stadt, vorbei an kilometerlangen Zeilen neuer Wohntürme, die dereinst vielen Tausend Han-Chinesen eine neue Heimat bieten werden.

Die Fahrt ist so ereignislos wie die Landschaft, die an uns vorbeizieht. Endlose, eintönig braune Sand- und Steinwüste in einem diffusen Licht ist für lange Zeit das einzige, was wir sehen. Kleine Dörfer säumen die Strasse dort, wo es etwas Wasser hat. Mit dem Velo wären wir hier drei, wenn nicht vier Wochen unterwegs gewesen – gut, haben wir uns das erspart! Unser Chauffeur findet dann doch noch das Gaspedal und wir kommen ganz anständig voran, immer wieder unterbrochen von langen Abschnitten, wo die Strasse wieder einmal gerade im Bau ist und wir darum auf einer improvisierten Piste dahinholpern. Wer nun denkt, dem essfreudigen Chinesen würden zahlreiche Stopps an Verpflegungsständen oder Restaurants geboten, der irrt gewaltig: Nur zur Not hält der Bus und dann stürzen alle nach draussen, um ihre Notdurft zu verrichten. Im besten Fall geschieht das an einer Tankstelle, wo im noch besseren Fall sogar das Konzept des geordneten Urinierens bekannt ist. Will heissen: In einem kleinen Gebäude sitzen dann zig Chinesen schön aufgereiht und erleichtern sich um die Wette. Manchmal gibt es zwischen den Nischen ein kleines Mäuerchen, manchmal aber auch nicht. „Scheissen im Team“ sozusagen, für uns zugegebenermassen gewöhnungsbedürftig. Rauchen im Bus? Kein Problem! Ebenso wird mitten in der Nacht mit Inbrunst ins Telefon gebrüllt oder unter lautem Schmatzen ein Hühnerfuss abgenagt – in Plastik eingeschweisst wie andernsorts Nüsschen oder Snacks.

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Erst gegen Ende der langen Reise wird die Landschaft wieder interessanter, wir verlassen die Taklamakan-Ebene und schrauben uns in die Höhe, hin zum riesigen Qinghai-See. Im Licht des späten Abends haben wir einen herrlichen Ausblick auf die bizarren Felsformationen am Seeufer. Dann bricht die Nacht herein, wir dämmern nochmals ein paar Stunden auf unseren Pritschen dahin und schon stoppt der Bus bei einer Zahlstelle der Autobahn. Raus mit euch beiden, scheint der Fahrer zu sagen, wir ziehen unsere Taschen und Velos aus dem Gepäckfach und der Bus rauscht davon. Da stehen wir also in aller Frühe 18 Kilometer vor Xining, einer „kleinen“ Millionenstadt im Herzen Chinas. Tschüss Uiguren, hallo Tibeter!

2 Kommentare

  • irgendlink

    Toll, ein Bus, in dem man – theoretisch – schlafen könnte. Der Zoll-Horror klingt bedrückend, abschreckend. Hoffentlich ist es im Land etwas weniger streng. Viel Glück weiterhin.

  • Daniel Wulle

    Lustig, euer Zelt neben dem Zollgebäude. Und diese Nudeln – einmalig! Die Busfahrt werdet ihr wie vieles andere nicht so schnell vergessen… Gute Tibet-Reise…

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