China

Bern-Kunming in 12 Tagen

Kunming ist – jetzt machen wir für einmal einen kleinen Bildungsausflug – eine der drei Partnerstädte Zürichs. Einen roten Teppich bei unserer Ankunft haben wir deshalb nicht erwartet. Aber dass es ein kleineres Kunststück ist, mit einem Fahrrad in diese Stadt hinein- und wieder hinauszufahren, gibt einem schon zu denken. Anderen Radlern erging es nicht besser: Zwei britische Fernradler mussten vor einigen Wochen bei der Ausfahrt aus Kunming nach 75 Kilometern und Stunden der Herumirrens auf Baustellen und gesperrten Strassen klein beigeben und am Abend wieder in ihr Hostel zurückkehren.

Über 30 Jahre besteht diese Städtepartnerschaft; das den Zürchern wohl bekannteste Resultat davon ist der Chinagarten an der Seepromenade, „einer der ranghöchsten Gärten ausserhalb Chinas“. Werden wir in Kunming, dank des milden Klimas die „Stadt des ewigen Frühlings“ genannt, ebenfalls auf Spuren von Zürich stossen? Vielleicht auf eine Replik vom Sternen-Grill am Bellevue inklusive legendärer Bratwurst und einem Gold-Bürli? Oder gar auf einen Hafenkran, der hier genauso deplaziert wäre wie am Limmatquai? Nun, Zürichs Beiträge sind subtiler: Trink- und Abwasser, Stadt- und Regionalentwicklung waren in der Vergangenheit Themen. Aktuell soll Altstadtschutz ein prioritärer Zusammenarbeitsbereich sein. Da müssen wir schon schmunzeln: Hallo, wo gehts hier bitte zur Altstadt? Es ist in Kunming kaum ein Gebäude auszumachen, das mehr als ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Im Osten der Stadt entsteht ein neues Quartier für ein paar Hunderttausend Chinesen – wir sind meilenweit durch ein Meer von Baukränen gefahren. Sorry, liebe Zürcher: Hier gibts keine Altstadt mehr zu schützen. Wir haben nur noch einige Trümmerfelder gesehen, auf denen bald weitere Hochhäuser in den Himmel wachsen. Die von der „Velostadt Zürich“ angeregten separaten Busspuren, Fussgängerzonen und Fahrradstreifen (auf denen notabene nur Elektroscooter rollen) haben wir allerdings mit Wohlwollen zur Kenntnis genommen, sie sollen ja in der Volksrepublik China Modellcharakter haben. Aber dass kein einziger Chinese selbst auf diese bahnbrechenden Innovationen gekommen ist?

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Fussgängerzone in Kunming, aufgewertet mit Kunst am Bau –
das haben die Chinesen bestimmt den Zürchern zu verdanken!

Wie auch immer, wir geniessen die praktisch sehenswürdigkeitenfreie Grosstadt eine Woche lang. Sehen uns den ziemlich braunen „Green Lake“, ein paar Tempel und Pagoden sowie den Vergnügungspark am Dian-See an. Bald stossen auch Heidi und Markus dazu, denen wir seit Kashgar immer knapp vorausgefahren sind – da gibt es bei einem Bier viele Anekdoten über lustige und seltsame Begegnungen mit den Asiaten auszutauschen! Nicht zuletzt warten wir aber je länger, desto ungeduldiger auf ein Paket aus der Schweiz: Ich fahre ja seit knapp 1000 Kilometern ohne Hinterbremse, was bei aller Angewöhnung kein Spass und schlicht gefährlich ist – Südchina wird je länger, desto gebirgiger, und spätestens in Laos geht es ohne zuverlässige Bremse nicht mehr.

Unseren Velohändler des Vertrauens baten wir, den neuen Bremshebel per DHL-Expresspaket zuzustellen. Ebenso avisierten wir mitten in der chinesischen Pampa gleich ein Hostel in Kunming, dieses doch bitte für uns entgegenzunehmen, sollten wir selbst nicht vor dem Paket in der Stadt eintreffen. Am 25. Oktober in Bern aufgegeben, geht es so speditiv, wie man sich das vom Unternehmen DHL wünscht: Am 26.10. um 7:14 Uhr startet mein Bremshebel auf der Leipziger Piste 08R/26L mit Ziel Hongkong, das es gleichentags um 20:31 Uhr erreicht. Ein Tag später ist es bereits in „China, Southwest Area“, konkret in Chengdu. Töricht, wer nun denkt, es ginge im selben Expresstakt weiter! Eines schönen Tages in den Weiten Chinas stellen wir am Abend fest, dass wir von einer chinesischen Nummer angerufen wurden. Dies beunruhigt uns nicht weiter – wer in China eine SIM-Karte erwirbt, kriegt bereits 10 Minuten nach deren Aktivierung die ersten Werbe-MMS für Kühlschränke und Popcornmaschinen zu Sonderpreisen zugestellt. Wir schenken dem verpassten Anruf also keine Beachtung, bis wir aus Bern die Nachricht erhalten, DHL könne uns nicht erreichen. Wozu denn? Ich rufe also zurück und lasse mir von einer netten Dame erklären, dass ich als Empfänger eine Zolldeklaration durchzuführen hätte. Derweil liegt unser Paket in Chengdu und macht keinen Wank. Etwas verärgert bitte ich um die Zustellung der Unterlagen per E-Mail – immerhin liest man auf dhl.de ja unter anderem:

Wir sorgen dafür, dass Ihre Sendungen reibungslos den Zoll passieren. Durch unser einzigartiges Netzwerk von Zollniederlassungen kennen wir die Herausforderungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs wahrscheinlich besser als jeder Andere. Unser höchst effizienter Zollabfertigungs- und -Compliance-Service ist so gestaltet, dass er das komplexe Zollverfahren wesentlich vereinfachen hilft.

Warum wir ein korrekt deklariertes, harmloses Bremshebelchen nun nochmals erklären müssen, entzieht sich unserer Kenntnis. Kurz vor Kunming, es ist nun bereits November, liegt die Nachricht von DHL in meiner Mailbox: 6 Anhänge, mehrseitige Zollbestimmungen und ein Deklarationsformular – natürlich alles auf Chinesisch! Unter gütiger Mithilfe von Google Translate erschliesst sich mir nach und nach, was gefordert wird – ich soll handschriftlich bestätigen, dass ich der Empfänger der Sendung bin, eine Passkopie beilegen und weitere Angaben zum Inhalt machen. Abgesehen von Pass und Unterschrift nichts, was nicht schon in der Schweiz deklariert wurde. Soviel zu „reibungslos“ und „effizient“! Ich sende die Unterlagen eiligst zurück – leider ist Freitagabend und ja, bei DHL arbeitet am Wochenende niemand, auch nicht in China. Am Montag darauf schreibt meine liebe DHL-Frau Rachel eine Zeile:

Dear christian: We received your paperwork,we will declare to customs in 3days.

Langsam bin ich etwas ungehalten. Jetzt will die gute Rachel erst mal drei Tage warten, bis unser Paket möglicherweise aus den Klauen des chinesischen Zolls befreit werden soll? Da schreib ich doch gleich nochmals ein nettes Mail, dessen Inhalt wir hier lieber nicht publizieren. Die Antwort kommt überraschend schnell:

Dear christian
Got it ,we will deal with it in advance.
Could you pls provide us the detailed description,like the tyre or other spare parts of bicycle?
So appreciate for your information.

Langsam wundern wir uns, wie um alles in der Welt DHL in der Lage ist, grosse Mengen an Waren um den Globus zu befördern. Wir schicken DHL nun also ein weiteres Mail mit allen erdenklichen Details zu meinem schönen, schwarz-glänzigen Bremshebelchen: Modell HS-11, Hersteller Magura, gefüllt mit Hydrauliköl, Link zur Herstellerseite. What’s next? Soll ich auch noch Farbe, Grösse und Produzent meiner Unterhose bekanntgeben?

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DHL scheint mich genug gequält zu haben, ein Tag später schreibt Rachel eine letzte Zeile: Dear Christian:Your parcel had been released by customs. Endlich! Nach zwölf Tagen schliesse ich glücklich und mit einem seligen Lächeln das Paket mit dem gelb-roten DHL-Logo in die Arme. Und wir wissen nun auch, wofür DHL steht: „Das Hät Lang!“ Der Hebel ist in wenigen Minuten montiert – nun sind wir bereit für die Berge. Südchina, wir kommen! Wäre da nicht ein kleiner Denkfehler bei der Planung der weiteren Reise gewesen. Lange waren wir unschlüssig, ob wir über die nahe Grenze nach Vietnam weiterfahren sollten oder nach Laos, wo wir vor drei Jahren bereits per Rad unterwegs waren. Berichte anderer Reisenden über den rücksichtslosen Verkehr in Vietnam veranlassen uns, die erste Option fallenzulassen – lieber kurven wir ein zweites Mal durch die verträumten laotischen Berge, wo wir nach dem lauten China etwas Ruhe tanken können. Nur: Bis zur laotischen Grenze sind es fast nochmals 800 hügelige Kilometer, und unsere chinesischen Visa nähern sich langsam dem Verfalldatum.

Was nun? Erst mal holen wir uns beim thailändischen Konsulat innert Tagesfrist ein Touristenvisum für 60 Tage – so geht das, ihr Turkmenen, Usbeken, Chinesen! Darauf folgt ein kleiner Abstecher zum Büro der Ausländerpolizei. Hier kann man sein Visum maximal einmal um 30 Tage verlängern, allerdings ist die Servicebereitschaft der Beamten je nach Stadt oder Region recht unterschiedlich. Generell soll es in grösseren Metropolen massiv bürokratischer zugehen als in kleineren Städten. Ohne grosse Erwartungen stehen wir deshalb am Schalter, wo uns der Beamte das Prozedere erklärt. Fünf Tage soll es dauern, benötigt werden Fotos und ein paar Formulare. Das geht ja noch, denken wir und ziehen von dannen. Einen Tag später stehen wir erneut vor demselben Beamten, legen unsere Passbilder und Papiere vor, worauf er uns erklärt, es dauere mindestens acht, vielleicht auch zehn Arbeitstage, bis wir das neue Visum erhalten würden. Ach, wie wir diese chinesische Unzuverlässigkeit lieben!

Die Entscheidung ist schnell gefällt: Wir verzichten auf eine Zugabe in China und kürzen unseren Weg an die Grenze mit einer Busfahrt ab. Doch so einfach, wie das klingt, ist es natürlich nicht. Der Bushof von Kunming liegt ja praktischerweise 20 Kilometer südlich der Stadt. Das ist also so, wie wenn man von Luzern aus für eine Busfahrt zuerst nach Cham (!) fahren müsste. Oder von Bern nach Grosshöchstetten. Oder von Zürich nach Bülach. Kurz gesagt: Da hätten wir ja gleich alles mit dem Rad fahren können. Immerhin, ein bisschen Spass muss sein: Dank dem heissen Tipp unserer österreichischen Radlerfreunde nehmen wir nach dem 34-sten Beinahe-Unfall unsere Notpfeife aus der Lenkertasche und pfeifen den Chinesen mal ordentlich eines um die Ohren. Zu unserem Gaudi scheint Lärm zu helfen. Wenn ich in die offenen Fenster der rücksichtslosen Kleinlaster pfeife, stehen die Fahrer ganz entsetzt auf die Bremse.

Von Kunming bis Pu’er liegen unsere Velos im Bauch eines Busses, während wir die endlosen Reihen von Gewächshäusern an uns vorbeiziehen lassen. Die Fahrt dauert länger als erwartet und es dunkelt bereits, als wir in der Nähe des Bushofes in ein heruntergekommenes Quartierhotel einchecken. Da kommt der Schnaps gerade richtig, der uns in der Kneipe auf der gegenüberliegenden Strassenseite vor dem Znacht offeriert wird. Prost!

Beim frühen Frühstück legen wir uns nächstentags eine Strategie zur Kaperung des Expressways zurecht, denn Fahrräder sind auf der Autobahn weiterhin verboten. Wir warten auf einen Bus, der auf den Tollgate zurollt, schleichen uns rechts heran und fahren neben ihm ungesehen an der Schranke vorbei. Gesagt, getan – schon rollen wir auf dem feinen Asphalt dahin und geniessen erst einmal eine lange Abfahrt. Nach gut 20 Kilometern ist aber fertig lustig – hinter uns macht es „mööööp“. Oje, das lustige Quieken einer Streifenwagen-Hupe. Alles Nichtverstehen, Gestikulieren und Argumentieren nützt nichts: Die beiden Polizisten haben alle Zeit der Welt, um uns die Strecke bis zur nächsten Ausfahrt zu begleiten. Dort warten sie auch brav, bis wir  die verbotene Zone verlassen haben. Der Wärter am Tollgate schreit uns noch etwas nach – will er gar Geld für unsere Strolchenfahrt? Verstimmt machen wir uns einmal mehr auf den Weg auf die „alte“ G213, der wir schon seit über einem Monat vom Osttibet quer durch China folgen. Adieu ihr bequemen Brücken und Tunnels, es wird gleich wieder anstrengend mit viel Auf und Ab. 150 Kilometer und 1300 Höhenmeter werden es an diesem Tag…

Belohnt werden wir mit Einblicken ins ländliche Südchina. Wir sind nun definitiv in den Tropen angelangt, das Klima ist feucht-schwül und die Szenerie wechselt zu tropisch: Tee-, Bananen-, Kautschuk- und Kaffeeplantagen wechseln sich ab mit Abschnitten unberührten Regenwalds. Sogar wilde Elefanten soll es hier geben und wir werden auf Warntafeln aufgefordert, diese doch bitte nicht mit unnötiger Huperei zu erschrecken.

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Xishuangbanna ganz im Süden Yunnans steht bereits voll im Zeichen Südostasiens. Wie im Osttibet und in Xinjiang handelt es sich um eine autonome Region, die vorwiegend von Dai bevölkert wird, einer ethnischen Minderheit am Rande Chinas. Entsprechend geht es auch wieder freundlicher zu und her. Plötzlich heepen uns die Leute wieder ein herzliches „Hello“ zu, winken enthusiastisch und beglücken uns mit einem Lächeln. Uiguren, Tibeter, Dai: Die Minderheiten in China bleiben uns in bester Erinnerung. Wir haben eine einfache Daumenregel aufgestellt: Je mehr Han-Chinesen, desto unfreundlicher wird es. Sorry, liebe Chinesen!

In Jinghong lassen wir unseren bald zweimonatigen Aufenthalt im Reich der Mitte gemütlich ausklingen, besuchen den sehenswerten Botanischen Garten und fühlen uns dank entsprechender Architektur schon ganz wie in Thailand. Die Stadt ist ein Thailand-Disney für Chinesen, die das tropische Feeling ohne mühsame Reise ins Ausland erfahren möchten. Sogar T-Shirts mit der Aufschrift „Thailand“ gibts zu kaufen für jene, die zu Hause gerne etwas herumprahlen. Wieso auch in die Ferne schweifen? Wir hingegen freuen uns bereits aufs In-die-Ferne-Schweifen, denn für uns heisst es jetzt 再见中国: Tschüss China!

5 Kommentare

  • Daniel Wulle

    DHL – 12 Tages-Nix-mit-Express! Aber einen jubelnden Bruder mit dem Da Hät Lachä Päckli! Vor-Weihnachten oder sonstige teuer erkaufte Geschenk in China…😀! Die Strolchenfahrt gefällt mir, auch das versöhnliche Ende mit den doch noch freundlichen Chinesen… Und dann noch der 10’000 Velo Kilometer, wie ihr den wohl verdient gefeiert habt?!?

  • Herr K

    Verspätungen, Leerläufe etc. in China? Ich arbeite mit ca. 0.000002% aller Chinesen reglmässig zusammen. Mindestens aufgrund der Erfahrungen mit diesem Teil der Population erstaunen mich Eure Erkenntnisse leider nicht.
    Was mich allerdings erstaunt: dass Ihr, die Ihr doch einige Jahre in „Sanggalle“ verbracht habt, der faden und überteurten Zürcher Sternen-Bratwurst nachweint. Gibt’s doch nicht 😉
    Weiterhin viele tolle Eindrücke, Erlebnisse und Erinnerungen. Sie werden Euch bleiben – die Hornhaut am Füdli hoffentlich nicht…

  • Christian

    Wir trauern der Sternen-Bratwurst keineswegs nach, lieber Herr K.! Sie soll ja nicht einmal besonders gut schmecken, hat der Tagi in einem Saure-Gurken-Zeit-Artikel herausgefunden. Uns als Nicht-Karnivore kümmert das allerdings sowieso herzlich wenig…

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