China

Goldenes Osttibet

Xiahe mit dem berühmten Labrang-Kloster ist der nächste Fixpunkt unserer Reise von Nord nach Süd, quer durchs Osttibet. Allerdings sind wir leider nicht die einzigen: In der ersten Oktoberwoche ist ganz China ferienhalber unterwegs, und so tönt es nach einem anstrengenden Tag mit vielen Höhenmetern in den Gästehäusern überall: Sorry, kein Zimmer mehr frei! Wir sind ziemlich ratlos – was jetzt? Wir versuchen unser Glück in der schönsten Jugi im Ort, die vor lauter jungen Chinesen aus allen Nähten platzt. Offenbar sehen wir abgekämpft genug aus, sodass man uns anbietet, unser Zelt auf dem Parkett mitten im Flur vor dem Gemeinschaftsklo aufzustellen. Zwar zieht ein dezenter Toilettenduft anmächelig durch die Nase und wir müssen uns neben zwei andere Zelte in eine Ecke quetschen, doch lassen wir uns trotzdem nicht zweimal bitten und schlagen erstmals unser Zelt indoor auf. Dabei hatten wir uns in den letzten Tagen so auf eine anständige Matraze gefreut: Manchmal kann man nicht gewinnen!

Tags darauf strahlt erneut die Sonne vom Himmel und wir machen uns auf, die weitläufige Klosteranlage von Xiahe zu besichtigen. Nur schon entlang der Klostermauern kann man stundenlang wandeln und mit viel Schwung die Hunderten Gebetsmühlen rotieren lassen. Beeindruckend farbig oder golden erstrahlen die Tempel, überall gehen Mönche eifrig ihren Mönchs-Verrichtungen nach. Wegen den chinesischen Feiertagen wirkt die Anlage allerdings komplett überlaufen. Wir fragen uns, ob die städtischen Chinesen wohl ihre Spiritualität gerade wiederentdecken? Es werden Busladung um Busladung chinesische Touristen ausgespuckt, die sich sofort aufs ausgedehnte Räucherstäbchen- und sonstige Memorabilia-Sortiment stürzen.

Auch der Tag unserer Weiterfahrt beschert uns einen wolkenlosen Himmel – zumindest zunächst. Wir brechen erst am Mittag auf: Ausschlafen, gemütliches Frühstück und Postkartenkauf müssen sein! Und so holt uns der Wetterumschwung noch im gleichen Tal ein: Eine tiefschwarze Gewitterfront braut sich hinter uns zusammen und rückt unerbittlich näher. Wie die Irren treten wir in die Pedale mit der naiven Illusion, dem bedrohlichen Donnergrollen mit ein bisschen Muskelkraft entgehen zu können. Doch wenig später fallen die ersten Tropfen und beim Aufstieg auf den ersten Pass wird das Nass sogar kurz zum Schnee. Brrr! Wir haben aber Glück, der Spuk ist rasch vorbei – erstaunlich, wie schnell hier das Wetter ändern kann. Wenig unterhalb des zweiten Passes schlagen wir kurz vor Sonnenuntergang unser Zelt auf – campieren auf 3500m Höhe ist inzwischen ja kein sonderliches Ereignis mehr. Belohnt werden wir dank der Höhe jedoch einmal mehr mit einem eisig kalten, aber atemberaubenden Sternenhimmel.

Nachdem in der ersten Woche Osttibet viele Höhenmeter, aber eher kurze Strecken zu bewältigen waren, kombinieren wir jetzt beides. In 6 Stunden spulen wir 111km und fast 1000hm ab – wenigstens macht uns die Höhe nicht mehr allzu viel aus. Durchfroren erreichen wir beim Eindunkeln unser nächstes Ziel Langmusi und fahren einmal mehr durch eine völlig unpassende Neustadt, die derzeit von den Chinesen aus dem Boden gestampft wird. Der Stadteingang besteht aus einer einzigen Baustelle, denn hier soll schon nächstes Jahr die Einwohnerzahl verdoppelt werden. Was für eine hinterlistige und berechnende Strategie des übermächtigen Han-Chinas: Die Tibeter werden somit quasi über Nacht zur Minorität in ihrem eigenen Land.

Beim Herumfragen nach einer Unterkunft laufen wir per Zufall wieder unseren australischen Radler-Freunden über den Weg, die derzeit per Bus unterwegs sind. Diese Welt ist einfach klein! Wir finden ein Guesthouse im tibetischen Stil – was authentisches Wohnen mit hübschen holzgeschnitzten Zimmern bedeutet, uns aber auch ein authentisch tibetisches Schlaferlebnis ermöglicht. Das heisst: Zimmertemperatur=Aussentemperatur. Selten haben wir in den eigenen vier Wänden so gefroren! Zum Glück haben wir warme Schlafsäcke dabei…

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Die chinesischen Feiertage sind nun vorbei und es wird spürbar ruhiger in den Klosterdörfern. Wir geniessen die klare Luft und die Sonne, wandern in den umliegenden, sehr an die Heimat erinnernden Bergen herum – nicht umsonst nennt man die Gegend „Oriental Swiss“. Auf den grünen Matten knien Tibeterinnen und schneiden Stück um Stück vom Gras heraus, um darunter an begehrte Wurzeln zu kommen, die wohl als traditionelle Medizin verwendet werden. Da Langmusi mitten auf der Grenze zwischen zwei Provinzen liegt, hat jeder Dorfteil sein eigenes Kloster. Wir müssen schmunzeln: Ein tibetanischer Kantönligeist! Im Gegensatz zu ihren südostasiatischen Kollegen sind die Tempel hier von robuster Natur mit meterdicken Mauern, Schindeldächern und vielen Holzbalken. Nachdem wir wieder einmal an einem Tempelmodell im Chaletstil vorbeilaufen, starrt Yvonne nachdenklich in die Luft und meint: Hey, das hier ist „Holzhüttenbuddhismus“! Die alten Tibeterinnen kümmern solche Äusserlichkeiten herzlich wenig, wie eh und je umrunden sie die Anlagen, ein Lächeln auf den zerfurchten Gesichtern und ihre Gebetsmühlen schwenkend.

Wer die Mönche ihr Morgengebet singen hören will, muss früh aus den Federn. Dachten wir und stehen mit klammen Fingern bei Sonnenaufgang am Tor des Langmu-Klosters. Zumindest der für die Kasse zuständige Mönch ist schon wach, er knöpft uns je 30 Yuan ab – hmpf, nächstes Mal verkleiden wir uns als Pilger! Diese Anlage ist mit 600‘000m2 eine der grössten in Tibet. Singende Mönche treffen wir allerdings keine, nur ein schwaches Murmeln dringt aus den Schlafhäusern, während die Tempel noch geschlossen sind. Umso schöner ist der Ausblick: Unten im Tal liegt das Dorf zart verhüllt in Nebelschwaden, während sich die umliegenden Berge bereits im Morgenlicht wärmen. Wir beschliessen, mangels mönchischen Lebens halt noch ganz auf den Hügel zu steigen – und gelangen so unverhofft zu einer Zeremonie, die uns tief beeindruckt: Ein Sky Burial.

Die Himmelsbestattung ist bis heute in Tibet am meisten verbreitet. Am Tag der Bestattung wird der Leichnam noch vor Sonnenaufgang zum Bestattungsplatz gebracht. Dort wird der Körper von den Leichenbestattern zerteilt und den – zuvor angelockten – Geiern zum Fressen überlassen. Diese für den Buddhismus sonst unübliche Art der Bestattung ist auf den Mangel von Brennholz sowie den im Winter gefrorenen Boden in der Region zurückzuführen. So wurde die Himmelsbestattung in den regionalen Buddhismus eingebracht. In Tibet wird diese Form heute noch regelmässig durchgeführt neben Feuer- und Erdbestattungen. Quelle: Wikipedia

Fasziniert, aber auch etwas scheu nähern wir uns dem Bestattungsplatz. Zwar sind neben einer riesigen Horde von Geiern auch andere Touristen da, dennoch ist es ein seltsames Gefühl, in einem so intimen Moment zu stören. Im Hintergrund murmelt ein Mönch Gebete, während die Habseligkeiten des Verstorbenen verbrennen. Allzu makaber wird das Schauspiel zum Glück nicht: Bei unserer Ankunft am Bestattungsplatz haben die riesigen Vögel ihr Werk grösstenteils schon vollbracht. Es geht trotzdem zur Sache, und zwar nicht unzimperlich. Die Bestatter zerteilen mit Beil und Hacke das übriggebliebene Skelett, währenddessen die Vögel brav warten – sie wissen genau, wann sie an der Reihe sind. Übrig bleibt von der sterblichen Hülle zuletzt nichts… ausser eine Horde satter Geier.

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Hol’s der Geier!

Nach zwei sonnigen, wenn auch kalten Tagen in Langmusi schwingen wir uns wieder auf die Sättel und treffen gleich als erstes eine denkbar schlechte Entscheidung. Damit wir nicht ein Stück zurückfahren müssen sowie um vermeintliche Höhenmeter einzusparen, wollen wir einen kleinen Umweg über eine Nebenstrasse nehmen. Der kleine „Umweg“ entpuppt sich bereits am Dorfausgang als Schotterstrasse, und bald schon beginnt ein steiler Anstieg zu einem Pass. Nach wie vor von unbeirrbarem Optimismus beseelt, glauben wir, dass hinter dem Pässchen die Rückkehr auf die Asphaltroute wartet, doch nichts da. Zwar erstreckt sich vor uns ein hübsches Tal, doch zu unserem Schrecken erspähen wir in der Ferne die steilen Kehren eines weiteren Passes. Man muss unser Fluchen bis nach Kashgar gehört haben! Der Fahrweg ist in einem erbärmlichen Zustand und so steil, dass wir die Räder meist schieben müssen. Fanden wir den einsamen Umweg vorerst noch ganz pittoresk, so treiben uns unsere Hochrechnungen die Tränen in die Augen: Wenn es so weitergeht, erreichen wir vor Eindunkeln gerade mal knapp die Asphaltstrasse.

Gegen Abend biegen wir tatsächlich ziemlich abgekämpft zurück auf die richtige Strasse ein, und unsere Augen werden feucht, als wir das Unfassbare erfassen: Wir stehen vor einem Tunnelportal, das uns ganz bequem und auf Asphalt von der anderen Seite über den Berg gebracht hätte. Das muss die Rache des Pamir Highways sein! Was wir uns dort bequem im Jeep erspart haben, haben wir uns mit dem 8000sten Kilometer heute zurückerschottert.

Zumindest das Wetterglück jedoch ist uns hold: Am nächsten Morgen werden wir von den ersten Sonnenstrahlen und dem bedrohlich nahen Getrampel einer Yak-Herde geweckt. Ein Augenschein bringt Klarheit: Die sanften Riesen rennen wie wild in der Gegend herum, wohl um sich nach der kalten Nacht aufzuwärmen. Nachts sinkt die Temperatur unter Null, tagsüber wird es dann aber jeweils sommerlich warm.

P1100129Nachdem das Hufengedonner verstummt ist, nähert sich knatternd ein Töffli. Hö, motorisierter Besuch mitten auf dem Feld? Wir hören Bremsen quietschen. Dann Stille. „Hellooooooo“? Wir lugen verblüfft aus dem Zelt: Vor unserem grünen Haus stehen drei neugierige Hirten. Die Tibeterin hoch zu Ross, während die beiden Männer unser Material interessiert begutachten. In Sachen Zelt kennen sie sich bestens aus und helfen uns beim Abbbau unseres kleinen Heims. Unsere leichten Karbonstangen finden dabei besondere Anerkennung…

Wir fahren durch die beeindruckenden Weiten des tibetischen Graslandes, stets über 3000 Metern Höhe und immer wieder mit Aufstiegen auf kleinere und grössere Pässe. Wir machen wieder mehr Distanz und weniger Höhe. Bis wir nach Songpan kommen – einem völlig touristischen, pseudoauthentisch renoviertem Bergstädchen, das tagtäglich von Hunderten von Tourbussen überflutet wird. Der Ort begeistert uns wenig, zumal seit Tagen kein Strom vorhanden ist und auch bald ein Wetterumschwung bevorsteht. Wir wollen deshalb möglichst rasch hinunter ins warme Flachland, bevor der erste Schnee fällt.

Ab Songpan geht es bis in die Millionenmetropole Chengdu fast nur noch runter, wenn auch mit einem so heftigen Gegenwind, dass es sich meist wie Bergauffahren anfühlt. In drei Tagesetappen verlieren wir auf 350 Kilometern 3300 Höhenmeter. Wir fahren durch kleine Weiler mit Holzhäusern, die glatt im Bündnerland stehen könnten – mal abgesehen von der roten Flagge mit den fünf gelben Sternchen. Immer enger wird das Tal, links und rechts erheben sich schroffe Felswände und auf jedem bebaubaren Flecken Erde wird Gemüse angepflanzt.

Die Menschen hier sind wirklich nicht zu beneiden, sie sind den Naturgewalten schonungslos ausgesetzt. Hier war das Epizentrum des gewaltigen Erdbebens im Mai 2008 – mit einer Stärke von 8,0 auf der Richterskala waren die Erschütterungen noch im 1700km entfernten Shanghai zu spüren. Fast 70‘000 Menschen verloren ihr Leben, 5,8 Millionen Einwohner wurden obdachlos und noch heute sieht man Trümmer der damals zerstörten Strassen im Tal.  Damit nicht genug: Heftige Regenfälle vor wenigen Wochen liessen den Min-Fluss so heftig anschwellen, dass viele der Brücken im Tal erneut weggespült wurden. Felsstürze und Schlammlawinen begruben Strassen und Häuser unter sich. Auch wir kriegen die Folgen zu spüren: Immer wieder müssen wir unsere Räder über provisorisch in die Schuttkegel gebaggerten Fahrwege schieben.

Seit dem Bau des Expressways ist die von uns benutzte alte Strasse nur noch schwach frequentiert, entsprechend gibt es auch so gut wie keine Infrastruktur für Reisende mehr. Wir stellen unser Zelt an wenig attraktiven Ecken auf in der Hoffnung, dass uns kein Steinschlag und keine Flut ereilt – viel Platz fürs Campen hat es im engen Tal nicht. Irgendwann geht gar nichts mehr: Wir stehen vor dem Nichts, die Brücke ist weg. Was nun? Mit Mühe schaffen wir es, unsere Velos und die ganzen Taschen auf einem Trampelpfad über eine steile Böschung auf die nahe Autobahn zu hieven. Der viele Verkehr zwingt uns aber bald wieder, auf die Nebenstrasse auszuweichen. Pest oder Cholera – wir wissen nie, ob unser Weg abrupt endet und wir wieder zurückfahren müssen. Weiter unten im Tal wird tags darauf die Situation richtig prekär. Schon kurz nach dem Start gibt es kein Fortkommen mehr: Wir wechseln wieder auf die Schnellstrasse, die wegen den Sturmschäden nur noch zwei- statt vierspurig geführt wird. Wir weichen auf die gesperrten Spuren aus, fahren einsam durch gesperrte Tunnels, bis wir einmal mehr am Abgrund stehen: Auch die Autobahnbrücke ist nicht mehr!

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Eine der vielen zerstörten Brücken im Min-Tal

Der Rest ist schnell erzählt: Die Vorstädte Chengdus haben Ausmasse, die wir uns als Schweizer gar nicht vorstellen können. Knapp 50 Kilometer vor dem Zentrum sind wir bereits mitten drin in den Aussenbezirken der Stadt, in die man die Schweiz beinahe zweimal reinpacken könnte. Es ist später Nachmittag und wir beschliessen, sicherheitshalber ein Zimmer zu buchen. Und dann bleibt nicht mehr viel Zeit, in knapp zwei Stunden ist es dunkel und wir wollen vorher ans Ziel kommen. Ab in die Pedale, wir heizen durch die Strassenschluchten und stehen in der Dämmerung vor einem 30-stöckigen Hochhaus. Hier soll unser Zimmer sein, aber da ist nichts und niemand, der etwas von uns oder vom Apartement weiss. Ein Anruf bringt uns auch nicht weiter, die Dame versteht kein Wort Englisch und unser Chinesisch ist unzureichend für eine Klärung der Situation. So packe ich eine Gruppe chinesischer Touristen, die aus dem Aufzug steigt. Die Lösung des Rätsels: Die Rezeption befindet sich in einem engen Kämmerlein im 26. Stock des Gebäudes, da hätten wir lange suchen können! Für die nächsten fünf Tage sind wir nun stolze Besitzer einer herrlichen Loge mit Aussicht über die glitzernde Stadt. Das haben wir uns wirklich verdient!

5 Kommentare

  • ändu

    Liebste Grüsse euch beiden…jedes Mal total spannend eure Berichte zu lesen, zu sehen oder zu hören…möge euch die Spiritualität der Tibeter weiterhin begleiten und euch Sorge tragen 🙂

    Ändu

    PS: wenn ihr zurück seit melden wir euch an den Iron Man auf Hawaii an, bei dem Höhentraining und den Temperaturschocks seit ihr unter den ersten 10 🙂

  • Peter Grupp

    Unglaublich, spannend und reichlich makaber (Sky burial) – ihr seid wirklich in einer andern Welt! Ich freue mich jedes Mal über ein Update von furt.ch und lese es hinterm Ofen, warmduschend und pantoffelheldisch mit grösstem Vergnügen. Aber „unsere“ Schweiz belasst ihr lieber wo sie ist, ich möchte nicht morgen als Millionenvorstädter im 26. Stock aufwachen 😉
    LG und weiter viiiel Spannendes!

  • Daniel Wulle

    Idoor Zelten oder Zimmer- = Aussentemperatur oder…. Spannende Unterkunfts- und Schlafeerlebnisse! Und was sonst noch alles für Erlebnisse: der 10’000 km rückt näher! Viel Genuss weiterhin! Novembegrüsse!

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