La meravigliosa Umbria

Von Sydney über Singapur und Doha nach Rom mit nur zwei kurzen Umsteigestopps: Dies mag für den vielbeschäftigten Geschäftsreisenden Business as usual sein, für den Gelegenheitstouristen eine stressige Ausnahmesituation – für den Veloweitreisenden aber ist es schlicht ein Schock. Sind wir uns überschaubare Distanzen und das langsame Herantasten an neue Länder, Leute und kulturelle Begebenheiten gewohnt, werden wir in nur 26 Stunden zurück nach Europa katapultiert. In weiser Voraussicht haben wir uns für einen kleinen Schlenker auf dem italienischen Stiefel entschieden. So können wir uns sachte an die Heimat herantasten und vermeiden die freundlichen Schweizer Zöllner am Zurich Airport, die uns mit einem breiten Grüezi willkommen heissen. Und nicht zuletzt lassen wir damit eine kleine Träumerei aus der Anfangszeit unserer Reise wahr werden: „Eigentlich sollten wir unsere Route anpassen und eben doch erst einen Giro d’Italia machen…“

Frühmorgens kurz vor 7 Uhr landet unsere Qatar-Maschine in Roma-Fiumicino und steuert auf das vorgesehene Gate zu. Ein paar Meter davor ist allerdings Schluss. Wie üblich ist das Publikum beim Anblick des Flughafengebäudes schon aus den Sitzen gesprungen, um im Gepäckfach fiebrig nach seinen persönlichen Utensilien zu fischen. Doch nichts geht, mürrisch werden die Plätze wieder eingenommen. Nach einer halben Ewigkeit meldet sich der Pilot leicht entnervt. Man könne die finale Standposition leider nicht einnehmen, weil sich niemand für uns zuständig fühle. Man hört den Sarkasmus förmlich durch den Bordlautsprecher triefen. Da sitzen wir also weitere 10 Minuten, währenddessen das Bodenpersonal vermutlich gemütlich einen Caffè trinkt und die Gazzetta dello Sport durchblättert. Schliesslich sind wir verspätet, auf uns hat hier also keiner gewartet. Erneut meldet sich der Pilot, mittlerweile sichtlich verärgert: Unsere Maschine müsse nun mangels willigem Abfertigungspersonal am Dock an einen Standplatz etwas ausserhalb fahren. Immerhin fährt nach diesem Manöver ein Bus vor, um uns zur Gepäckausgabe zu bringen – wir hatten uns bereits auf einen Fussmarsch eingestellt. Für das Privileg eines Gepäckwagens wird dann auch noch eine Gebühr fällig: 2 Euro, zahlbar in kleinen Münzen. Das ist Italien!

Was für ein Kontrast: Eben noch waren wir im fernen Asien, wo der Aufbruch vielerorts fast mit Händen zu greifen ist. Wo Dutzende, ja Hunderte Millionen Menschen hart daran arbeiten, in einen – wenn auch bescheidenen – Mittelstand aufzusteigen. Nun stehen wir vor den Toren Südeuropas, wo es sichtlich gemächlicher hergeht. Fast scheint es, als hätte man es sich in der jahrelangen Krise gemütlich gemacht. Konsum ja, aber bitte nicht dafür arbeiten. Und spätestens Mitte Fünfzig dann die volle Rente erhalten. Auch das ist Italien.

Wir schrauben frohgemut unsere Räder zusammen und kurz darauf geht es los in die seltsam vertraut wirkende Landschaft. Vom Jetlag spüren wir wenig, und so lassen wir Rom rechts liegen und radeln bei herrlichstem Frühlingswetter gleich nordwärts zum Lago di Bracciano, wo wir einen praktisch leeren, verträumten Zeltplatz direkt am See finden. Und wen treffen wir nach dem kühlen Bade gleich neben unserem Zelt an? Ueli und Rita aus der Schweiz, die mit ihrem Landcruiser schon durch die entlegensten Regionen dieser Welt gekurvt sind und sich gerade auf ihre baldige Südamerika-Reise vorbereiten. Klein ist die Welt der Weltreisenden.

Noch am selben Abend bestätigt sich ein weiteres Italien-Klischee. Als wir am Strassenrand kurz anhalten, um uns zu orientieren, fällt uns eine betagte Dame auf: Heftig mit den Armen rudernd und aus ihrem Fiat-Fenster palavernd. Ausser Italienisch liegt bei ihr natürlich keine andere Sprache drin. Wir entnehmen ihrem Wortschwall, dass der Motor wohl streikt, und wir jetzt bitteschön ihre alte Rostlaube anschieben sollen. Machen wir natürlich gerne. Seit der Türkei mussten wir keinem verzweifelten Autolenker mehr den Wagen einen Berg hochstossen. Zeit, dass der zweiradfahrende Autofreund erneut zur Hilfe eilt!

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Nordwärts fahren wir durch die duftende Landschaft nach Umbrien. Die milde Frühlingssonne ist nach den Strapazen auf der Südhalbkugel eine wahre Wonne. Unser Weg ist gesäumt von wunderbar unbekannten, schmucken Städtchen, wo das Leben noch seinen uritalienischen Lauf nimmt. Wir nippen unseren vormittäglichen Caffè gemeinsam mit dem adrett uniformierten Carabiniere auf der Plaza von Sutri, schauen den rauchenden Signore in Vignanello beim Strassenschach zu und treffen mit den wenigen Jugendlichen von Orte auf dem winzigen Kirchplatz zum Apéro ein. Viele dieser Städtchen, meist auf einer Erhebung hoch über dem Tal angelegt, verströmen noch heute einen Hauch der jahrtausendealten Geschichte, die oft weiter zurückgeht als bis zur Römerzeit. Alleen, gesäumt von unzähligen Zypressen und noch unzähligeren Schlaglöchern weisen uns jeweils den kurvigen Weg in die Hügel. Die spriessenden Reben überziehen ganze Landschaften mit einem saftiges Hellgrün. Wir radeln vorbei an herrschaftlichen Landhäusern, erhabenen Klöstern und verfallenen Palazzi.

Und nicht zu vergessen, was den wahren Charme Italiens ausmacht: Die Begegnungen. Ein kurzes Zvieri bei einem idyllisch gelegenen Kapuzinerkonvent wird zur ausgedehnten Konversation mit dem liebenswerten Rentner Martin, der sein Leben als Model verbracht hat und sich ob unserer Abenteuer kaum erholen kann. Er will uns gar nicht erst weiterfahren lassen und rät uns, möglichst bald nach Umbrien zurückzukehren. In Amelia spricht uns ein 70-jähriger Naturheilarzt an und erzählt gemütlich rauchend, wie er auf seinen ausgedehnten, monatelangen Wanderungen in fernen Landen jeweils einen Schirm auf den Rucksack bindet, damit die Autofahrer Abstand halten. In Todi atmen wir etruskische, umbrische und römische Geschichte und schlafen stilecht in historischen Gemächern aus dem 17. Jahrhundert. Am Lago Trasimeno bringen die Fischer im goldenen Abendlicht ihre Netze ein, während aus der fernen, schwarzen Silhouette der Stadt die Kirchenglocken erklingen.

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Umbrien gefällt uns ausserordentlich. Weit weniger touristisch als die überlaufene Toscana, die wir als nächstes ansteuern, bietet die Region alles, was man sich für eine Italienreise wünscht. Kurz vor der Einfahrt in unsere Lieblingsstadt Arezzo dreht Yvonnes Schaltgriff im Leeren. Nanu? Ein Blick genügt und wir wissen, dass das dünne Schaltkabel an der Rohloff-Nabe gerissen ist. Zehntausende von Gangwechseln hat es mitgemacht – keine schlechte Bilanz. Im Hof einer Autowerkstatt versuchen wir uns unter der stechenden Sonne erstmals im Auswechseln eines Schaltseil-Sets. Mit rauchenden Schädeln und etwas Schmierfett vom Garagisten klappts nach langem Herumpröbeln und wir schaffen es noch rechtzeitig in die Stadt. Hier legen wir einen Pausentag ein, bevor wir uns in Orte mit so klingenden Namen wie Siena oder Firenze aufmachen. Denn dort wartet ein letztes Mal Besuch auf uns!

For sale

Häuser, Pubs, Bauernhöfe, Motels, Weideland, Restaurants, Ruinen, ganze Freizeitanlagen, ja sogar Kirchen: In Neuseeland ist alles for sale. Auch an den entlegensten Orten strahlen uns die auf Holzpflöcken in den Boden gerammten Immobilienhaie und Grundstücksmaklerinnen mit ihrem Kukident-Lächeln an. Nicht die Einsamkeit oder die lästigen Sand Flies sollen die Gründe für den Ausverkauf der Südinsel sein, wie wir zuerst vermuten. Nein, es lockt das schnelle Geld. Bei den hierzulande nicht sehr beliebten Rentnern aus den USA soll es besonders populär zu sein, am anderen Ende der Welt ein Stückchen Land zu kaufen. Vermutlich überlassen die neuen Besitzer die Bewirtschaftung dann einem Einheimischen, während sie draussen auf ihrer Veranda ein Glas Weissen trinken und dabei von einer Horde Stechbiestern leergesaugt werden. Selbst eine Chinesin, die mitten in der Pampa ein Pub bewirtet und dazu chinesische Gerichte serviert, hat sich ein „Zu verkaufen“-Schild organisiert und haut bei nächster Gelegenheit ab. Als wir bei ihr die Gebühren des nahen Zeltplätzchens begleichen wollen, kommen wir mit den einzigen zwei Gästen ins Gespräch. Es ist ein liebenswürdiges dänisches Rentnerpaar, das in der Nähe eine Farm besitzt und hier die europäischen Wintermonate überbrückt. Einen weiteren Hof haben sie in der Heimat, ebenso ein schönes Appartement in Kopenhagen. „We think that’s quite clever!“ sagen sie, zahlen uns ein Bier und grinsen entspannt. Hat was!

Mangels eigener Immobilie stellen wir unser Zelt auf und kommen mit den zwei weiteren Besuchern des Campgrounds ins Gespräch. Wie könnte es sonst sein, es ist ein Schweizer Paar auf Veloreise. Mit einem grossen Feuer versuchen wir, der Insektenplage Herr zu werden, leider erfolglos: Die Biester ignorieren unsere Rauchzeichen und stechen munter weiter. Nur mit unserer thailändischen Extragiftmischung können wir das Ungeziefer in Schach halten. Dafür scheint tagsüber mal die Sonne – ist es die Ruhe vor dem Sturm? Nach Tränengas in Istanbul, verschütteten Strassen und eingestürzten Brücken in China oder Unruhen in Thailand ist es Zeit für einen richtigen Tropensturm: Zyklon Lusi ist unterwegs! Unsere Wege kreuzen sich ziemlich genau in Nelson.

Zyklon Lusi

Der Weg dahin ist einmal mehr eine Kombination von unerhört steilen Anstiegen, vielen Kilometern und einen uns permanent verhöhnenden Gegenwind – wie wir das lieben! Immerhin scheint tagsüber die Sonne. Erst während der sich hinziehenden Anfahrt durch end- und gesichtslose Gewerbeviertel verdüstert sich der Himmel. Kaum stehen wir vor dem gebuchten Hostel, beginnt es zu regnen. Die apokalyptische Berichterstattung zum aufkommenden Sturm hat uns vorsichtig gemacht: Zum ersten Mal seit unserem Start in Christchurch stellen wir nicht unser Zelt auf, sondern kommen in den Genuss von eigenen vier Wänden und einer richtigen Matratze – kostenloser Blick auf riesige Schiffscontainerstapel im Hafen inklusive! Drei Tage dauert unsere Zwangspause. Hatte Lusi auf der Nordinsel noch erhebliche Schäden angerichtet, haben wir es nur noch mit einem Stürmlein zu tun. Zwar fegt uns der Wind beim Spazieren durch die Strassen manchmal fast von der Strasse, aber zusammen mit den Locals nehmen wir es sportlich und geniessen das Kleinstadtleben. Entdecken einen echten Italiener, der weiss, was eine Pizza ist. Besichtigen die Sehenswürdigkeiten – wobei dies in recht kurzer Zeit erledigt ist, denn abgesehen von einer mittelprächtigen Kathedrale im Art-Deco-Stil gibt es so gut wie nichts zu sehen. Staunen über die bemerkenswerte Anzahl an Supermärkten – Essen scheint wirklich eine der Lieblingsbeschäftigungen der Leute zu sein. Stellen fest, dass offenbar eine ganze Generation von neuseeländischen Jugendlichen ihre Zeit damit verbringt, in verwahrloster Kluft als Strassenmusikanten ein paar Dollars zu verdienen. Erfreuen uns nicht zuletzt an der Tatsache, dass wir nicht permanent von einem Schwarm Sand Flies verfolgt werden. Sitzen im gemütlichen Hostel, während es draussen Bindfäden regnet. Fast werden wir heimisch, aber die Nordinsel ruft!

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Das Warten hat sich gelohnt: Bei strahlendem Sonnenschein und hohen Temperaturen fahren wir auf dem malerischen Queen Charlotte Drive durch die zusehends zerklüftete Gegend der Marlborough Sounds. Immer wieder gibt die kurvige Strasse einen atemberaubenden Blick auf einsame Buchten. Und dann nehmen wir Abschied von der Südinsel: In Picton besteigen wir frühmorgens die Fähre, die uns nach Wellington bringt. Wir merken schnell, dass wir in der Hauptstadt angekommen sind: Eine beachtliche Dichte an Kravattenträgern markiert das politische Zentrum des Landes. Glücklicherweise ist der Bahnhof gleich gegenüber vom Fährhafen, wir packen die Gelegenheit und ergattern uns Bahntickets für die Weiterfahrt nordwärts. Uns bleiben nur noch zwei Wochen bis nach Auckland und die wollen wir nicht mit Schäfchenzählen in den endlosen Weiden der südlichen Nordinsel verbringen. Da der Zug just zur Abendessenszeit unterwegs ist, geniessen wir ein selbst mitgebrachtes Picknick und kassieren prompt einen saftigen Zusammenschiss des Zugbegleiters. Unser mitgebrachter Weisswein ist illegal. Alkhoholische Getränke dürfen nur in der Zugbar bezogen werden. Ganz verdattert sitzen wir da und knabbern eingeschüchtert an unserem Käse. Wenigstens das ist erlaubt! In Palmerston North (von den Einheimischen liebevoll „Palmy“ genannt) springen wir aus dem Zug und stellen erstaunt fest, dass hier sogar Fahrradrouten existieren. Wir überlegen nicht lange und nehmen die Strecke in Angriff.

Die Route führt landschaftlich reizvoll durch eine so gut wie unbesiedelte Gegend. Obwohl sogar ausgeschildert, begegnen wir weit und breit keinem einzigen Radfahrer. Auch sonst gibt es fast keinen Verkehr und wir haben die Strasse für uns alleine – eine Wohltat nach haarsträubenden Begegnungen mit wildgewordenen Truckfahrern. Zwischenzeitlich fahren wir mitten durch den Urwald und lauschen den unbekannten Geräuschen des heimischen Federviehs. Es kommt uns vor, als sässen wir mitten in einem National-Geographic-Dokumentarfilm:

Das Topografie dieser Gegend entlockt dem gemeinen Radler immer wieder eine Schimpftirade. Alle paar Kilometer frisst sich ein Fluss tief ins Gelände ein. Da steht man dann am Abgrund, schaut sehnsüchtig hinüber zur Strasse auf der anderen Seite, die zum Greifen nah scheint. Allerdings windet sich diese halsbrecherich erst satte 200 Höhenmeter in die Tiefe. Da unten überqueren wir dann eine schmale Holzbrücke, bevor wir die verlorene Höhe schweissgebadet zurückerobern dürfen. Zum Lohn für 1400 Höhenmeter Schinderei finden wir in Rangiwahia den wohl niedlichsten Campingplatz des ganzen Landes. Die goldenen Jahre des Dorfs sind zwar schon länger vorbei, wir finden nur ein paar verstreute Häuser vor. Aber das einsame Plätzchen gleich im Dorfzentrum ist uns einfach sympathisch, nicht zuletzt wegen dem aufregenden Ausblick auf die lokalen Hotspots:

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Hier tanzt der Bär: Rangiwahia Downtown

Die Stille wird nur selten unterbrochen von ein paar Bell Birds, deren Gesang uns manchmal an das Rauschen und Zirpen der guten alten Dial-up-Modems erinnert. Dass die kleine Schule im Nachbardorf in einem handgefertigten Faltblatt den Durchreisenden bittet, doch auf einen Besuch vorbeizuschauen, passt ebenfalls in die entspannt-melancholische Stimmung.

Inzwischen sind wir auch in der Lage, das blumige Marketing-Englisch der Tourismusverantwortlichen des Landes zu interpretieren. Die Broschüre zum Manawatu Cycle Way liest sich mit dem vifen Auge eines erfahrenen Neuseelandradlers folgendermassen:

The 126-kilometre Manawatu Cycle Way weaves its way (die kurvige Strecke ist ein einziges Auf und Ab) from Mangaweka to Palmerston North City, providing cyclists with a two-day trip set against the region’s unique rural landscape (Schafe, Schafe, Schafe, Schafe). This off-the-beaten-track (hier kommt kein Mensch, und das hat seinen Grund!) takes you on a journey to discover hidden places and tucked away treasures (so versteckt, dass auch wir sie nicht finden) ranging from convivial country cafes and pubs (leider alle geschlossen, nur bellende Hunde da); heritage sites (oooh, ein antiker Kirchturm aus dem Jahr… 1953!), galleries and gardens (wird ausnahmsweise das Gras mal nicht gemäht, wachsen sogar Blumen), to scenic reserves, day walks, swimming holes, glow-worm caves, picnic areas (Kiesplatz neben der Strasse ohne jegliche Annehmlichkeiten wie Tisch, Sitzbank oder Mülleimer, man fährt ja im Wohnmobil vor), and camping spots (alle bereits geschlossen).

Kühe, Schafe und immergleiches Weideland haben wir nun genug gesehen. Die vor uns liegende Vulkanwelt verspricht endlich ein bisschen Abwechslung. Kommen wir zunächst noch einmal in den Genuss von 1001 Hügeln und einer Fahrt durch ein Übungsgelände der Armee, finden wir uns bald auf einer sanft ansteigenden Ebene wieder. Vor uns erhebt sich der mächtige Mount Ruapehu mit seiner schneebedeckten Krone. Fast 2800 Meter hoch ist der imposante Berg und damit der höchste Vulkan Neuseelands. Obwohl es in jüngerer Zeit immer wieder Eruptionen gab, befinden sich hier Skigebiete mit der dazugehörigen Infrastruktur. Ohakune scheint eine einzige Ansammlung von Unterkünften und Verpflegungsstätten für Alpinsportler zu sein. Uns zieht es darum bald weiter zum Mount Ngauruhoe, dessen Name für nichts weniger als „heisse Steine werfend“ steht. Bleibt nur zu hoffen, dass der Berg in den nächsten Tagen auf ein Feuerwerk verzichtet – nicht umsonst hat er es als „Mount Doom“ in Lord of the Rings zu einiger Bekanntheit geschafft. Tatsächlich übt die perfekt kegelförmige Gestalt des Vulkans eine magische Faszination aus. Bei recht schönem Wetter pedalen wir durch diese Wunderwelt, gerade richtig für unseren Jubiläumstag: Seit einem vollen Jahr sind wir nun furt und am anderen Ende der Welt angekommen. Wie klein dieser Planet doch ist!

Frühmorgens hat der Ngauruhoe noch seine orange Mütze an

Frühmorgens hat der ferne Ngauruhoe noch seine orange Mütze an

Hat uns die Berglangschaft der Kiwis bisher nicht zu Freudensprüngen verleitet, finden wir an diesen bizarren Steinformationen wesentlich mehr Gefallen – einen giftig dampfenden Schlot findet man in der fernen Heimat ja nicht gleich um die Ecke. Wir werden deshalb mit unserem Zelt ansässig und machen uns auf zum Tongariro Alpine Crossing. Fast 20 Kilometer führt dieser (Massen)-Wanderweg durch eine einzigartige Vulkanlandschaft. Mal präsentiert sich der Mount Ngauruhoe in dichten Nebel gehüllt, mal zeigt er seine steilen, tiefrot schimmernden Abhänge. Kraterseen glitzern mal smaragdgrün, mal tiefblau. Aus unzähligen Löchern im porösen Gestein zischt penetrant-schwefliger Dampf heraus. Grosses Kino! Der Abstieg zieht sich dann allerdings ewig hin und wir stellen ernüchtert fest, dass unsere Fitness zwar zum Zweiradfahren taugt, die Muskeln zur Fortbewegung zu Fuss hingegen zwischenzeitlich verkümmert sind. Der Muskelkater am Folgetag spricht jedenfalls Bände!

Welche Kräfte in dieser Region unter dem Boden brodeln, wird einem auf Schritt und Tritt bewusst. Geysire und blubbernde Schlammpools à la Yellowstone sind unmittelbare Zeugen der unterirdischen Aktivität. Aber auch die weitläufigen Anlagen zur geothermischen Energieproduktion sind eindeutige Zeichen dafür: 13% der Elektrizität werden auf diese Weise produziert. Jedes Hotel preist seinen eigenen Hot Pool an – Kunststück, wenn das warme Wasser sozusagen aus dem Boden sprudelt! Dazwischen machen wir Halt in Kleinstädten und Touristenorten, die allesamt den nimmerendenden Drang der Touristen nach Adrenalin zu befriedigen versuchen. Jetboating, Skydiving, Bungeejumping, Adventure Quad-Biking, Scenic Helicopter Flights – Hauptsache, es macht Lärm und erhöht die Pulsfrequenz!

Blubb!

Blubb!

In Rotorua legen wir ein letztes Mal vor dem Schlussspurt nach Auckland einen Ruhetag ein, fahren ohne Gepäck durch Schwefelfelder und blubbernde Themalquellen, beäugen holzgeschnitzte Maori-Statuen und vermelden den ersten Materialverlust infolge Diebstahl: Werden uns in der Küche des Hostels tatsächlich zwei Trinkbecher und ein Sackmesser geklaut. Sind wir nun also um die halbe Welt gefahren, doch bestohlen werden wir im zivilisiertesten Land seit Europa – bedenklich!

Von nun an gehts nur noch in nordwestliche Richtung, das subtropische Klima macht sich bemerkbar und wir freuen uns mittlerweile schon fast über den stetigen Gegenwind, der uns etwas Kühlung verschafft. Europa beginnt für uns schon hier: In Te Aroha landen wir unvermutet auf einem Zeltplatz, der seit vielen Jahren von einer Schweizerin geführt wird, in Kaiaua verbringen wir einen lustigen Abend mit einem Paar aus Ostdeutschland und einen Teil der letzten Etappe entlang dem malerischen Thames-Meeresarm legen wir mit Radler Neil aus Grossbritannien zurück. Aber halt, Europa kann warten: Wir legen ja noch einen kleinen Zwischenhalt auf einem grossen Kontinent ein. Kia ora, e noho rā New Zealand!

No trespassing! Keep out!

Dabei hat alles so vielversprechend angefangen! Trotz einer Stunde Verspätung (wir sagen nur: dontflyjetstar.com) werden wir mitten in der Nacht am Flughafen in Christchurch von meinem Cousin Michael abgeholt. Die Luft ist wunderbar kühl und der vertraute Duft einer lauen Sommernacht in der fernen Heimat kitzelt unsere Nase. Herrlich! Doch schon am nächsten Morgen ist es vorbei mit der Idylle. Beim Zusammenbauen unserer Velos bemerken wir, dass wir schon wieder einen Schaden zu beklagen haben! Yvonnes Vorderbremse leckt, bei jedem Zug am Hebel quillt etwas Öl hervor. Dabei hatten wir die Räder nicht nur penibel geputzt, sondern genauso penibel eingepackt und alle heiklen Teile mit Luftpolster umwickelt. Bevor wir mit dem defekten Modell in die Stadt fahren, decken wir uns noch mit einem kleinen Morgensnack ein. Kostenpunkt 15 NZ-Dollar. Ein Schock nach Südostasien, wo wir für das gleiche Geld wie die Könige hätten speisen können!

Glücklicherweise gibt es in der Stadt jede Menge Fahrrad-Fachgeschäfte. Die üppigen Auslagen in den Schaufenstern zerstreuen auch gleich unsere Zweifel, ob uns hier bei der Reparatur unserer hydraulischen Bremse geholfen werden kann. Magura? Klar, kennen wir! Haben wir! Dann folgt das Blättern im Auftragsbuch. Ob wir für einen Termin in zwei Wochen wieder kommen könnten? Wir fahren von Pontius zu Pilatus: Helfen könnten alle, Zeit hat keiner. Erstmals wird uns bewusst, dass wir jetzt wieder in der ersten Welt gelandet sind. Dass wir um die halbe Welt gefahren sind und nicht wochenlang auf einen Reparaturtermin warten können, versteht man hier nicht. In Asien hätte man uns helfen wollen, aber nicht helfen können. Hier ist es umgekehrt, Flexibilität gleich Null. Nach langem Herumirren finden wir dann doch noch einen Mech, der gleich zur Tat schreitet. Mit unserem Modell ist er aber nicht vertraut und vertröstet uns auf den Chef, der am Folgetag sicher eine Lösung finden kann. Ob wir morgen wieder vorbeikommen könnten? Wir lassen unsere Göppel stehen, Dave findet das awesome – eines der wenigen Wörter, die wir jeweils auf Anhieb und ohne nachzufragen verstehen. Reden die wirklich Englisch hier unten? Tags darauf stehen wir in aller Frühe wieder im Shop und bringen unser Ersatzmaterial und Reserveöl vorbei, da unser Bremsmodell offenbar auch hierzulande eher exotisch zu sein scheint. Der Maestro ist leider immer noch nicht da, er zimmert gerade an seinem Häuschen herum und soll am Nachmittag eintrudeln. Zeit für uns, Christchurch kennenzulernen!

Würde man von der Stadt einen Höhenprofil-Querschnitt machen, es wäre eine sehr lange Linie endlos vieler einstöckigen Holzhäuschen mit kaum einer Erhebung, nur im Zentrum steht eine Handvoll Hochhäuser. Und diese sind grösstenteils verrriegelt: Seit dem verheerenden Erdbeben vor drei Jahren scheint in Sachen Wiederaufbau nicht viel gegangen zu sein. In den mittlerweile verstaubten Schaufenstern der Läden werden noch die Sonderangebote von damals angepriesen, auf Zetteln wird die neue Adresse mitgeteilt und Schilder warnen vor dem Betreten der einsturzgefährdeten Immobilie. Die stolze Kathedrale, einst Wahrzeichen und Touristenattraktion der Stadt, ist nur noch ein Trümmerfeld, um das bis heute heftig gestritten wird: Abriss und Platz für Neues oder Wiederaufbau der historischen Mauern? Wir ziehen weiter und stossen auf einer Brache endlich auf Leben: Findige Unternehmer haben an der Cashel Street mit Schiffscontainern poppige Modeshops, Restaurants und Cafés eröffnet. Zur Mittagszeit wimmelt es nur so von Geschäftsleuten und Studenten, die sich hier verpflegen und tratschen.

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Auf uns wirkt es reichlich surreal: Eine hübsch aufgemachte Ladenzeile aus lauter farbigen Metallcontainern, umgeben von einer Grossbaustelle und zahlreichen lädierten Hochhäusern. Den Locals scheint es jedenfalls zu gefallen und es würde uns nicht wundern, wenn dieses Provisorium noch lange bestehen wird – dem Neuseeländer scheint es in eher rudimentären Behausungen zu behagen, wie wir noch oft feststellen werden. Vermutlich ist es ein Glück, dass weite Teile der Stadt aus einfachen einstöckigen Häusern besteht. So wurden beim Erdbeben zwar 100’000 Häuser beschädigt, aber es waren vergleichsweise wenige Tote zu beklagen. Paradoxerweise waren mehr als die Hälfte der Opfer beim Einsturz eines mehrstöckigen Gebäudes eines TV-Senders zu beklagen, in dem sich auch eine Sprachschule befand. Von meinem Cousin Michael erfahren wir, dass der Abriss der zerstörten Gebäude beziehungsweise der Wiederaufbau so stockend vorankommt, weil alle Arbeiten zentral koordiniert würden und erhebliche Engpässe bestünden. In den Zeitungen sind die Folgen des Bebens auch nach drei Jahren täglich ein Thema: Langjährige Mieter werden aus ihren Wohnungen geworfen, weil es für die Besitzer lukrativer ist, die Appartements an die zahlreichen ausländischen Bauarbeiter zu vermieten. Die Versicherungen kneifen bei der Auszahlung von Geldern und heuern lieber Heerscharen von Anwälten an, um Zahlungen zu vermeiden oder hinauszuzögern. Familien müssen ihre Häuser verlassen, da diese als einsturzgefährdet klassiert werden – ohne dass sie einen valablen Ersatz finden können. Michael kann selbst ein Lied davon singen: Für die vorgesehenen Reparaturarbeiten räumte er vor Wochen sein Haus und wohnte in einem temporären Appartment, während es einfach nicht voranging. Bei unserer Ankunft hätte nach Plan alles erledigt sein sollen, tatsächlich begrüsst uns Michael in einem leeren Haus und beim Zusammenschrauben unserer Velos geben sich die Handwerker die Türklinke in die Hand.

Einigermassen ratlos wandern wir durch Christchurchs Strassen. Unser Mech Dave hat uns ein weiteres Mal vertröstet und es ist inzwischen später Nachmittag. Wir wollen aber langsam raus aus der Stadt und wieder zweirädrig unterwegs sein, also machen wir uns auf den Weg zum Bikeshop. Dort ist Dave gerade damit beschäftigt, an Yvonnes Velo eine neue V-Brake zu montieren. Pragmatisch, der Mann! Vom Chef keine Spur, die defekte Magura ist genauso defekt wie zuvor, aber immerhin haben wir nun eine bremsende Bremse. „Awesome!“, oder eher „Ooossum“ jubeln Dave und wir nun im Chor, wir vermachen ihm zum Dank die halbe Flasche unseres Hydrauliköls und buchen die 70 Dollar für Arbeit und Material unter der Rubrik „Lustige Begebenheiten in fernen Landen“ ab. Endlich wieder mobil, machen wir uns auf in den nahen Pak’n’Save – eine Supermarktkette mit riesigen Filialen im Aldi-Stil. Die nächsten Wochen sind Camping und einige Durststrecken angesagt, also muss ein Grundstock an Nahrungsmitteln her! Milchpulver, Zucker, Pasta, Bouillon, Tomatensauce, Tee, Haferflocken, Instantkaffe, Trockenfrüchte, Kekse: Unsere Taschen platzen seit langem wieder fast aus den Nähten.

Unseren Abschlussabend zu dritt mit Michael verbringen wir ganz traditionell: Wir holen uns beim Asiaten um die Ecke Fish & Chips (pardon, „Fush & Chups“ heisst das hier), die Briten lassen grüssen! Fettig und günstig lautet die Devise, die frittierte Ware wird in Papier eingewickelt und später in trauter Runde von Hand gegessen. Dazu ein paar Flaschen Bier und fertig ist das Zaubermahl!

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Dann gehts los, unsere vollbepackten Velos sind schwer wie Blei nach fast einer Woche Nichtstun. Fast scheint es, Neuseeland wolle uns einen gar herzlichen Empfang für unsere Rundreise bereiten. Ein herrlicher Rückenwind schiebt uns die sanft ansteigende Ebene hoch, dazu scheint die Sonne so heiss, dass wir uns beinahe in Südostasien wähnen. Wir fahren durch endlose Weiden voller Schafe, Fichtenduft steigt in unsere Nasen. Kaum irgendwo ist es möglich, auch nur einen Meter von der Strasse abzuweichen: Jeder Flecken Erde ist eingezäunt, oft mit Stacheldraht und bisweilen sogar doppelt oder dreifach. „TRESPASSERS WILL BE PROSECUTED“ – „KEEP OUT“. Stellenweise erinnern uns diese Absperrungen beängstigend an die Grenzzäune totalitärer Staaten. Ist das die offene Weite der Südinsel, von der uns verschiedentlich vorgeschwärmt wurde? Soll das nun die grosse, ungezähmte Freiheit sein, von der wir geträumt hatten? In kleinen Häuschen vor ihren Höfen bieten die Bauern frisches Gemüse an, wir können nicht widerstehen und füllen auch noch die letzten Zentimeter unserer Vorratstasche. Heute Abend gibts Ratatouille!

Oberhalb der beeindruckend breiten Rakaia Gorge finden wir einen schön gelegenen Zeltplatz, wagen sogar einen kurzen Sprung in den eiskalten Fluss und geniessen unser Znacht in der Abendsonne über der Schlucht. Der starke Wind und die aufziehenden Wolken deuten allerdings auf einen Wetterumschwung hin. Und der soll heftig ausfallen. Zwar können wir am nächsten Morgen unser Zelt noch im Trockenen abbauen, doch schon im steilen Aufstieg aus der Schlucht beginnt es zu nieseln. Wir nehmen das vorerst hin, wird ja schon wieder mal aufhören! Es gibt ja dieses Tourenvelofahrer-Paradoxon: Zieht man bei aufkommendem Regen mühsam Regenjacke, -hose, Handschuhe und Schuhüberzieher an, strahlt keine fünf Minuten später wieder die Sonne und man erliegt in der Goretex-Sauna einem Hitzeschlag. Fährt man hingegen unbeirrt weiter, schüttet es zwei Augenblicke später aus allen Kübeln. So auch hier. Viereinhalb Stunden kämpfen wir uns im Gegenwind bei 6°C durch den peitschenden Regen, nur unterbrochen von einem kurzen Halt im weit und breit einzigen Café irgendwo im Hinderland. Die Strasse in die nächste Ortschaft Geraldine ist kilometerweit schnurgerade und ohne irgendeine Möglichkeit, auch nur für ein paar Minuten Wind und Regen zu entkommen. Wir sind heilfroh, schon vor der Siedlung einen Campingplatz zu entdecken: Grumpy’s Holiday Park! Fragen wir uns erst noch allen Ernstes, weshalb um alles in der Welt man seinen Campingplatz grumpy, also „griesgrämig“, tauft. Doch als wir mangels Platz in einer festen Behausung durchfroren und durchnässt unser Zelt aufbauen, beginnen wir den Grund zu erahnen. Willkommen in Neuseeland, dem Land des unbarmherzigen Klimas!

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Neuer Tag, neues Glück. Es scheint wieder die Sonne, die Berge vor uns sind weiss gepudert. Neben unserem Zelt windet sich ein knorrliger Kauz aus seinem rostigen Subaru, in dem er die Nacht durchschnarcht hat. Zu lüpfiger Country Music macht er im Klappstuhl seine Angelruten für den grossen Fang bereit. War der Platz am Vorabend noch fast leer, sind wir nun umzingelt von Motorhomes: Die Kiwis sind hier und wollen ihre Natur geniessen! Wir fahren die wenigen Kilometer ins Dorf und werden Zeugen eines weiteren arg neuseeländischen Spektakels: Ein Wettkampf im Holzschlag! Ein gutes Dutzend stramme Männer in weissen Hosen und schwarzen Trägershirts steht auf einer Wiese, ein jeder hat einen massiven Holzstrunk vor sich und eine Axt in der Hand. Ein Pfiff, und die Mannen schlagen auf die Baumstämme ein, als gälte es, einen Krieg zu gewinnen. Das Publikum tobt, nach einer Minute ist der Klamauk vorbei und der Boden übersät von Kleinholz. Am schnellsten war übrigens der beleibteste der Burschen – Masse scheint bei einer Wood Chop Competition zumindest kein Nachteil zu sein…

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Die kurvige Fahrt führt durch die Hügellandschaft Canterburys mit zahlreichen Wildgehegen. Wer demnächst in der Migros Wildfleisch kauft, der sieht in der Pfanne denselben Hirsch wie wir beim Vorbeifahren: Ein Grossteil des Wilds auf Schweizer Tellern stammt aus neuseeländischen Zuchtbetrieben. In Fairlie kommen wir so spät an, dass wir die Weiterfahrt über den Burkes-Pass nicht mehr wagen. Stattdessen suchen wir uns auf dem überteuerten Premium-Zeltplatz ein sonniges Plätzchen, decken uns im nahen Supermarkt mit Weisswein und Apérogebäck ein und lassen es uns gut gehen. Wir haben bereits gelernt: Wenn hier schon mal schönes Wetter ist, soll man diesen raren Moment geniessen! Es sollen drei überaus harte Tage folgen. Schon der Aufstieg zum Burkes-Pass, an sich eine lächerliche Erhebung von gerade mal 709 Meter: Ein Kraftakt der Sonderklasse. Der orkanartige Wind bläst uns fast von der Strasse. Nach nur 45 Kilometern, die meisten davon bergauf, kommen wir am Ende unserer Kräfte am Lake Tekapo an. In einer dunklen Vorahnung kauften wir in einem Hardware Store ein paar zusätzliche Heringe, die nun bereits zu ihrem ersten Einsatz kommen: Wir spannen unser Zelt an jeder erdenklichen Öse ab, um dem Wind zu trotzen. Zur Belohnung lockt eine selbstgemachte Pizza – immerhin ein Vorteil der meist gut ausgestatteten Küchen auf den Zeltplätzen Marke Holiday Park.

Nicht besser ergeht es uns tags darauf. Zwar lacht mehrheitlich die Sonne und der Strand des Sees offenbart uns ein glitzerndes Bergpanorama mit frisch verschneiten Hängen, doch der kalte Wind pfeift uns schon beim Morgenkaffee im Zelt um die Ohren. Die Fahrt vorbei am türkisfarbenen Lake Pukaki ist landschaftlich ein Höhepunkt, doch den Abstecher zum bekannten Mount Cook lassen wir wegen anhaltendem Regen sein. Auch dass es nach Omarama mehr runter statt hinauf gehen soll, davon spüren wir nichts. Im Kriechgang stemmen wir uns gegen den Wind, der – wie könnte es sonst sein! – auch immer just in unser Gesicht bläst. Keine 90km schaffen wir bis ans Ufer des Ahuriri Rivers, wo wir unser Zelt erstmals kostenlos aufschlagen dürfen. Ohne Wind wären wir vermutlich bereits über die Westküste hinaus ins offene Meer gefahren…

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Die Merinoschafe sind nun unsere treuen Begleiter, sie grasen direkt vor unserem Zelt und ich überlege mir, ob ich mir gleich selbst ein neues Icebreaker-Shirt stricken könnte – unsere haben mittlerweile von der monatelangen Beanspruchung Löcher an allen Enden. „The Home of your Icebreaker“ steht auf grossen Tafeln – die klimatische Szenerie passt denn auch bestens zum Slogan. Tiefhängende, schwarze Wolken türmen sich auf, das Thermometer zeigt 6° und der Wind kennt auch wieder nur eine Richtung: Gegen uns. Vor uns liegt der Lindis-Pass, mit 971m bei diesem Wetter durchaus kein Leckerbissen. Just bevor der Anstieg beginnt, hält ein Pickup neben uns, als wir uns gerade mit einem Shortbread für den bevorstehenden Krampf stärken. Ein junger Neuseeländer kurbelt die Scheibe herunter und kauderwelscht uns etwas zu. Nach einer kurzen Denkarbeit unsererseits glauben wir zu verstehen, dass er uns über den Pass mitnehmen würde. Auf keinen Fall sollten wir oben steckenbleiben, das Wetter werde nicht besser. Wir schauen uns kurz an und schlagen sein nettes Angebot aus – schliesslich sind wir zum Radfahren hier. Keine fünf Minuten später verfluche ich mich, nicht auf seine Einladung eingegangen zu sein. Wir taumeln auf den Pass, schiessen ein Erinnerungsbild und ziehen für die Abfahrt alle verfügbaren Zusatzschichten Kleider an. Etwas weiter unten im Gebirge wartet ein hübsches, unbewartetes Zeltplätzchen auf uns. Nur gerade zwei japanische Velotouristen und ein einheimisches Rentnerpaar im Wohnwagen sind da. Kurz zeigt sich sogar die Sonne und wir wagen zur Körperpflege ein kurzes Bad im nahen Bach. Hinter unserem Zelt trägt ein Apfelbaum pralle Früchte. Sie sind zwar noch etwas sauer, doch mit ein wenig Zucker und Öl aufgekocht geben die Äpfel ein herrliches Dessert her. Manchmal braucht es so wenig, um glücklich zu sein!

Im Schmelztiegel von China, Indien und Malaysia

P1120844Welcome to Georgetown! Wir tauchen ein ins Getümmel von ‚Little India‘, dem Inderquartier der Stadt: Gebetsutensilien und neonfarbiges Dekor für den Heim-Schrein leuchten auf den Verkaufsständern, Duftkerzen und Räucherstäbchen in tausend exotischen Varianten verbreiten ein Bouquet wie in einem Maharaja-Palast. Goldschmuck glänzt in den Tresen, beim Schneider werden farbige Saris und erstaunlich freizügige Wäsche feilgeboten. Genauso bunt wie dieser Mix von Farben und Gerüchen ist der Geräuschteppich: Tamilische Songs plärren aus riesigen Lautsprechern, übertönt einzig vom knatternden Motorenlärm vorbeifahrender Motorräder. Etwas weiter erhaschen wir Wortfetzen eines hitzigen Verkaufsgesprächs. Indisch, Chinesisch, Englisch, alles gleichzeitig und wild durcheinander.

Riesige Säcke mit Basmati- und Parfümreis stapeln sich neben Netzen voller Zwiebeln, Kartoffeln und Knoblauch. Von der Auslage weht der Duft von frischen Kräutern und Gemüse, das mit seinen kräftigen Farben heraussticht. Im Gefrierschrank lagert frischer Ingwer. Im Wind baumeln Beutel voller frittierter Papadam – knusprige Fladen aus Linsenmehl – weiter hinten im langgezogenen Raum stehen in Leinensäcken allerhand Nüsse, Linsen, Körner, Hülsenfrüchte, Chilischoten und eine Hundertschaft Gewürze. Kreuzkümmel, Chili, Kurkuma, Kardamom, Pfeffer, Senfkörner, Zimt, Fenchelsamen, Muskat, Sternanis und unzählige Currys – all das vereint zu einer Symphonie der Düfte.

In winzigen Verkaufsständen auf der Strasse werden allerhand Snacks im heissen Öl gebadet, die für umgerechnet nicht mal 15 Rappen verkauft werden. In Bananenblätter eingewickelter Reis, der in Kokosmilch gegart wurde und je nachdem mit Nüssen, Gurken oder Eiern ergänzt wird. Wir lassen uns immer wieder mal zu einem Probiererli hinreissen: Eine Tüte voller scharfer, süsser und nicht zuletzt fettiger Häppchen wechselt den Besitzer und wir machen einen weiteren Stich in unserer Liste der Street-Food-Sünden.

P1120839In den zahlreichen Restaurants geht es genauso köstlich weiter. Statt auf einem Teller wird in den einfacheren Gaststätten auf einem Bananenblatt serviert, gegessen wird mit den Fingern. Die Kellner zirkulieren mit den verschiedenen Speisen um die Tische und man lässt sich das Gewünschte einfach aufs Blatt legen. Dazu bestellt man sich Roti, das luftige Fladenbrot, oder Thosai, eine Art Crèpe mit einer Füllung nach Belieben: Masala, Gemüse, Ei oder auch süss mit Bananenstücken oder Kokosnussmilch. Die gewünschte Sauce dazu schöpft man sich gleich selbst: Sambar (eine Linsensauce), Zwiebel-Tomaten- und Besan- (Kichererbsen) Chutney nach Herzenslust. Mmmmh! Ein Essensparadies, wo wir wochen-, wenn nicht monatelang verweilen könnten! Ob wir dann allerdings noch in unsere Velohosen passen würden, steht auf einem anderen Blatt…

Uns gefällt die Stadt mit ihren multikulturellen Quartieren, lebhaften Kneipen und immer neuen Überraschungen an jeder Ecke ausserordentlich. Immer wieder gibt es Street Art aufzuspüren. In einem unscheinbaren Winkel versteckt sich ein chinesischer Tempel, nur entdeckt durch den Duft von Hunderten von Räucherstäbchen. In der Ferne erinnert ein Glockenschlag an die englische Vergangenheit. Am ehemaligen Hafen laden die ins Meer hinausgebauten Pfahlbauten der Jetty Clans zu Erkundungstouren ein.

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An der Uferpromenade werden wir von einer Gruppe Studenten angesprochen und zu einer gemeinsamen Tanzeinlage eingeladen. Und sind wir danach hungrig, wartet nicht weit entfernt ein Strassenrestaurant mit chinesischem Buffet auf knurrende Mägen. Georgetown, eine Stadt zum Verweilen!

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Einen Glückstreffer landen wir mit dem Zeitpunkt unseres Besuchs. Zwar sind deswegen fast alle Hotels restlos ausgebucht und wir finden nur mit Mühe eine Bleibe, dafür werden wir mit einem Spektakel der besonderen Art belohnt: Wir landen inmitten der Festivitäten zum chinesischen Neujahr. Die halbe Innenstadt ist für den Verkehr gesperrt, viele Geschäfte haben tagelang geschlossen und es werden eifrig Bühnen und Essensstände aufgebaut. Am Abend stürzen wir uns dann ins Geschehen: Drachentanz, Puppentheater, Kampfsportvorführungen und zum Schluss ein riesiges Feuerwerk. Was für ein Fest! Aber seht selbst:

 

Auf der Suche nach Malaysias Charme

Ein bisschen erstaunt sind wir ja schon, als der Zöllner nach keiner halben Minute unsere Pässe durch die Luke schiebt und uns in Malaysia willkommen heisst. Ein zweiseitiges Formular mit den üblich unnützen Fragen zu unserem terroristischen Hintergrund hätten wir erwartet. Oder zumindest ein Foto, bitte recht freundlich und ohne Brille oder Kopfbedeckung. Nichts dergleichen, er knallt nur einen Einreisestempel in den Ausweis und schon dürfen wir drei Monate im Land verweilen. Solcherlei unkomplizierte Verhältnisse haben wir seit der Türkei nie mehr erlebt!

Schon in den ersten Kurven nach der Grenze wird uns klar, dass wir verkehrstechnisch in einer ganz anderen Welt gelandet sind. Auf den Strassen fahren keine schicken Toyota Hilux mehr, sondern klapprige, rostige Limousinen und Kleinwagen aus den 1980er-Jahren. Mit der Zeit erkennen wir einige Zusammenhänge. Viele der Klappermühlen sind mit einem Logo geziert, das wir zuvor nicht kannten. Es handelt sich um Autos der Marke „Proton“, der malaiischen Nationalautogesellschaft. Eine Erfolgsgeschichte scheint das nicht zu sein. Da ausländische Wagen lange mit horrenden Zöllen belegt wurden, fehlte die belebende Wirkung von Konkurrenz. So fahren halt vor allem alte Kisten herum.

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Ein Proton erster Güte!

Wären genauso wenige Autos unterwegs wie in Thailand (48 pro 1000 Einwohner), dann könnten wir weiterhin ganz entspannt auf ruhigen Nebenstrassen nach Süden pedalen. Doch wir haben die Rechnung ohne die verfehlte Verkehrspolitik Malaysias gemacht, die uns fünfmal mehr Kraftfahrzeuge beschert (257 pro 1000 EW). Wir rätseln die ganze Zeit über die Ursache dieser Autodichte, bis uns ein Licht aufgeht: Der Sprit ist im Petronas-Land mit 55 Rappen pro Liter so billig, dass sich alle für jede noch so kurze Strecke motorisiert fortbewegen. Uns beschleicht irgendwann sogar das Gefühl, dass der Staat Arbeitslose dafür bezahlt, mit irgendwelchen Lotterautos in der Gegend herumzukurven. Hauptsache, etwas Öl wird in die Luft geblasen!

Nach langen Monaten mit fremden Schriftzeichen oder Buchstaben sind wir wieder beim wohlbekannten lateinischen Alphabet angekommen. Und nicht nur das: Wie in der Türkei geht es bei gewissen Ausdrücken recht flott mit der Aneignung der neuen Sprache: Auf der Strasse überholen uns die Motosikal, im Laden kaufen wir im Gefrierfach Ais Krem und bezahlen diese am Kaunter. Günstig schlafen tut man im Bajet Hotel, das man sich nach einem Besuch der Hompej per e-mel reserviert hat. An der Stesen weist eine Notis darauf hin, dass die Teksi neu an der Hinterseite des Bahnhofs warten. Am meisten Freude macht uns natürlich das Basikal, obwohl wir fast die einzigen auf einem unmotorisierten Zweirad sind. Wir wandeln kurzerhand den Ohrwurm von Olivia Newton-John ab und singen seither immer wieder mal: „Let’s get a basikal, basikal, I wanna get a basikal!“ Abgesehen von diesen importierten Wörtern ist Malay für uns ausschliesslich Kauderwelsch.

Zigaretten sind wieder in, selbstverständlich rauchen aber fast ausschliesslich die Männer. Die Jungs spielen Fussball und überholen uns viel zu laut und viel zu schnell in Gruppen auf dem Motorrad. Wir merken, dass wir nach dem emanzipierten Thailand wieder in einer Welt der Machos angekommen sind. Irgendwie erinnert uns Malaysia an Albanien. Viele Frauen tragen Kopftuch, der Muezzin ruft mehrmals täglich lautstark zum Gebet. Am Strassenrand sind unzählige Autowaschanlagen auf Kundenfang und beim Autohändler warten wieder glänzige Sportfelgen aller Art auf einen Käufer. Déjà vu!

In den Städten merken wir rasch, wer in welchem Quartier ansässig ist. Stossen wir auf viele Werbetafeln mit chinesischen Zeichen, haben die Chinesen Oberhand. An den vielen offenen Restaurants mit duftenden Buffets sind die Inder-Gegenden leicht zu erkennen. Oftmals ist es jedoch ein buntes Gemisch der verschiedenen Ethnien: Neben dem Hindu-Tempel bietet ein chinesischer Grosshändler gefrorene Hühnerfüsse feil, während gegenüber in der malaysischen Garküche die Inderfamilie genauso wie der Chinese einkehrt.

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Unsere südindischen Favoriten: Roti Canai (links) und Thosai (rechts) sind zu jeder Tageszeit ein perfekter Snack!

Der krasse Wechsel vom Königreich Thailand nach Malaysia überrascht uns. Kurz vor der Grenze fahren wir durch unbefahrene, grüne Landschaften – auf der anderen Seite ist das Land vollkommen gerodet, zugunsten von riesigen, schattenlosen Reisfeldern. Dank dem chinesischen Neujahr sind die Dörfer und Städte gespenstisch leer. Die vielen chinesischen Betonbunkerbauten sind geschlossen und machen einen abweisenden Eindruck. Keine orange gewandeten Mönche, keine lustigen Tuktuks oder Kollektivtaxis, keine kleinen Esstände an der Strasse, stattdessen fahren beschnauzbartete Muftis ihre Schleiereulen auf dem Motorrad zum nächsten Restaurant spazieren – und alles muss natürlich halal sein. Wir fragen uns ganz entsetzt: Ist Malaysia komplett ohne Charme?

Auch landschaftlich begeistert uns das Land mit einigen Ausnahmen wenig, was aber wohl mit unserer Routenplanung zu tun hat: Wir fahren im besiedelten Westen südwärts, da wir mit unserem Flug nach Neuseeland ja nun einen „Termin“ in Singapur haben. Viele Brachflächen warten auf die nächste Palmölpflanzung. Die wenigen Strandabschnitte im Nordwesten des Landes laden selten zum Bade, die Städte verbreiten mangels optischen Reizen oft eine leicht deprimierende Stimmung. Die Strassen sind kilometerweit schnurgerade. Es herrscht immer noch Linksverkehr, was für uns mittlerweile das natürlichste der Welt ist.

Der dichte Verkehr jedoch macht uns auch nach Tagen noch zu schaffen. Gefährlich wird es zwar selten, aber stundenlanges Fahren auf schmalen Strassen in der feuchten Hitze, während pausenlos Motorfahrzeuge an einem vorbeibrausen, ist einigermassen grenzwertig. Von einem Engländer mit malaiisch-chinesischer Frau erfahren wir, dass sich die ärmeren Leute die Autobahngebühren sparen und stattdessen auf den kleineren Landstrassen fahren. Ob die Töff- und Autoflotte deshalb eher aus in die Jahre gekommenen Rostmühlen besteht? Bedrohlich knatternde Motorräder und Autos kurz vor dem gefühlten Verschrottungsdatum wechseln sich ab mit gepimpten „Sportwagen“ mit breiten Reifen, riesigen Auspuffrohren und bedrohlich hohen Heckspoilern.

Und wo werden die vielen Autos nachts hingestellt? Das lernen wir in der Agglomeration rasch. Hier werden Wohnblocks zweigeteilt: Die unteren 10 Stockwerke sind das hauseigene Parkhaus, oben befinden sich die Wohnungen. Ein wahrer Alptraum für den VCS: Während in der Schweiz gegen jeden einzelnen Parkplatz gekämpft und Einsprache erhoben wird, gibt es hier vermutlich eine Pflicht, den Bewohnern eine ausreichende Anzahl an Garagenplätzen bereitzustellen.

In drei Etappen fahren wir bepackt mit lauter neuen Eindrücken nach Butterworth, wo wir zum ersten Mal seit Istanbul eine Fähre besteigen. Unser Ziel: Georgetown, ein kultureller Schmelztiegel sondergleichen auf der Insel Penang und seit 2008 Unesco-Weltkulturerbe. Wir verlieben uns sofort in dieses faszinierende Gemenge von chinesischer, indischer und malaiischer Kultur. Na endlich: Hier ist er, der Charme von Malaysia!