Der schamlose Veloklau

Lest ihr eigentlich noch mit? Nicht? Das dachten wir uns. Ihr habt uns aufgegeben. Abgeschrieben. Als bloggende Radler, versteht sich. Jetzt, wo uns keine Riesenkobras mehr verschlingen, ist der Spannungsfaktor um einiges reduziert. Das verstehen wir.

Obwohl: Es ist uns nun schon einige Male zu Ohren gekommen, dass da draussen noch einige sind, die mit Wonne auf Fortsetzung warten. Das motiviert uns natürlich. Denn noch ist diese Geschichte nicht zu Ende erzählt.

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Wir sind in Florenz. Also, eigentlich sind wir noch nicht ganz in Florenz. Denn als wir unsere Räder über den Platz vor dem Dom rollen lassen, macht es in Christians Hinterrad zum sechsten Mal auf dieser Reise „pfffft“. Weg ist die Luft. Und da wir nach so vielen tausend Kilometern schlicht und einfach zu faul sind, um inmitten der Touristenströme das Werkzeug auszupacken und uns dabei einmal mehr von Chinesen fotografieren zu lassen, schieben wir das Fahrgestell die restlichen Meter bis ins Hotel übers Kopfsteinpflaster. Ist jetzt auch egal.

Und dann kommt der grosse Moment. Wir klingeln an der Haustüre ihres Bed & Breakfasts und halten kurz darauf Daniela und Karin in den Armen. Wie haben wir uns gefreut! Gleichzeitig klingt aber auch eine traurige Saite in unseren Herzen an. Denn mit diesem letzten Besuch aus der Schweiz ist es langsam nur noch schwer zu leugnen: Unsere grosse Reise nähert sich dramatisch schnell dem Ende.

Vieles haben wir uns zu erzählen. Und die Wiedersehensfreude überdeckt unseren Schock ob den Menschenmassen, die sich hier an Ostern über die Stadt ergiessen. Wir beschliessen deshalb, Florenz am nächsten Tag auf nun vier Rädern in Richtung Lucca zu verlassen.

Firenze 1

Die Umstellung vom Zweier- auf den Viererkonvoi bereitet mir zunächst einige Probleme. Plötzlich wird die Routenwahl zum demokratischen Ereignis (zum Glück ohne Referendum und Initiativen), zu viert ist es gleichzeitig aber auch viel lustiger. Unsere relaxte Reiseweise irritiert zunächst unsere beiden neuen Mitradlerinnen. Zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit schlagen wir ein Päuschen vor. Dabei hatten sich Daniela und Karin innerlich auf Kampf eingestellt. Dachten, sie müssten sich die Beine in den Bauch strampeln, um uns ab und zu überhaupt noch von hinten zu sehen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir Weltradler sind auf gemütlich getrimmt. Während wir wie kleine Kinder jedem Kaffee, jeder Snackbude enttäuscht nachschauen, sind die beiden Damen jeweils schon weit vor uns. Hallo, bitte warten! So schnell wollen wir nicht zurück!

Am Abend des ersten gemeinsamen Radeltages finden wir im Herzen von Lucca ein hübsches Hotel. Einziger Wermutstropfen: Wegen der frisch renovierten Lobby will der Besitzer, dass wir unsere Velos bis am Abend draussen anbinden. Christian beschleicht schon da ein ungutes Gefühl. Hätte er doch nur etwas gesagt…

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Diesen Moment werden wir wohl nie vergessen. Als wir gutgelaunt vom Abendessen zurückkommen und nichtsahnend in unsere Gasse biegen, erstarrt Christian zur Salzsäule. Eins, zwei, drei… Wir folgen seinem entsetzten Blick und augenblicklich gefriert auch uns das Blut in den Adern: Es stehen nur noch drei Fahrräder vor dem Hotel. Um Himmels Willen! Es ist mir, wie wenn die ganze Welt in ein Loch verschwinden würde. Mehr als ein Jahr lang war es die Horrorvorstellung, dass eines unserer Räder wegkommt. Und nun ist es passiert. Das Herz rutscht in die Hose, mir wird schlecht. Denn nicht wir sind die Opfer, viel schlimmer: Karins Velo ist spurlos verschwunden!

Wir sind dermassen geschockt, dass wir kaum sprechen können. Just in diesem Moment biegt ein Polizeiauto in unsere Gasse ein. Wir stoppen die Herren und erzählen, was uns gerade widerfahren ist. Sofort erwacht der italienische Staatsapparat, kurz kommt Hektik auf. Der Rezeptionist wird interviewt. Namen, Nummern und Daten werden aufgenommen. Ja, man werde nun gleich eine Runde drehen und nach dem gestohlenen Fahrzeug fahnden. Der kurze Hoffnungsschimmer, der aufflackert, verpufft im Nichts. Vermutlich werden die Poliziotti in der Bar ums Eck beim Ramazzotti versumpfen. Man kennt ja Italien.

Am nächsten Morgen stehen wir pünktlich zur Öffnungszeit vor dem Commissariato von Lucca. Doch da ist das Interesse an vier aufgelösten Schweizerbürgern gering. Gelangweilt lässt man uns im Warteraum sitzen, bewirft uns beim polizeilichen Rauchen mit spöttisch-amüsierten Blicken und schiebt uns dann endlich ein Schadensformular zu. Ein zweiter aufgelöster Zeitgenosse folgt. Ein Italiener. Auch ihm wurde diese Nacht ein teures Velo geklaut.

Und was jetzt? Sollen wir alles abbrechen und gemeinsam mit dem Zug in die Schweiz fahren? Christian und ich haben absolut keine Lust mehr, unsere Reise fortzusetzen. Es erscheint uns völlig sinnlos. Zum guten Glück können uns Daniela und Karin vom Gegenteil überzeugen. Überhaupt reagieren die beiden mit absolut bewundernswerter Besonnenheit. Und wer die beiden kennt, weiss, dass sie so schnell nicht aufgeben. Vier Personen und nur drei Räder – was tut der geneigte Pfadfinder?

Genau. Er kauft sich eines dazu.

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Da stehen sie, mit dem neuen, heissen Schlitten

Wir machen nun also Bekanntschaft mit der Velohändlerszene von Lucca. Viel brauchbares ist allerdings nicht da. Zuerst will man uns ein gebrauchtes Touristenvelo andrehen: Ein Klappermodell mit Körbchen, mit dem die Japaner ihre Runden drehten. Kommt überhaupt nicht in Frage! Beim dritten Velohändler will es dann klappen. Kein Modell, mit dem es den Giro d’Italia zu gewinnen gäbe, klar, doch ein anständiges Billigvelo mit zwei Rädern, einem Sattel und einer lauten Klingel. Was will man mehr? Flugs werden Karins Vordertaschen auf unsere Gepäckträger verteilt. Und haben wir wenige Stunden zuvor noch daran gedacht, unsere Reise vorzeitig zu beenden, sind wir Momente später wieder on the road. Vier Schweizer, vier Räder. Auf in den Norden!

Auf dem fünften Kontinent

Beim Anflug auf Downtown Sydney atmen wir ein erstes Mal erleichtert auf. Was auf unsere Netzhaut trifft, gefällt uns auf Anhieb. Eine herrlich schroffe Küste, urbaner Grossstadtdschungel, freundlicher Sonnenschein und Menschen, die man versteht! Wir hatten uns heimlich ja schon für etwas verrückt gehalten. Oder besser, zivilisationsentfremdet. Denn in Neuseeland hatten wir stets das Gefühl, wie zwei asoziale Marsmenschen durch die Gegend zu steuern und ständig irgendwo anzuecken.

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Zum Beispiel beim Lebensmitteleinkauf in einem 1000-Seelen-Dorf. Damit wir den Fussgängern den Weg nicht versperren, stellen wir unsere Räder ganz einfach in eine freie Parklücke. Ergibt Sinn, denken wir. Nicht der Neuseeländer. „You might wanna park your bikes somewhere else“, werden wir diplomatisch darauf hingewiesen, dass wir im autofreundlichen Neuseeland soeben eine Todsünde begangen haben. Also eigentlich hiess es ja: „Yümaitwinnapiakiübaikssümwiails“. Da ich den Mann nur entgeistert anstarre, ergänzt er – nun schon merklich peinlich berührt – dass eben jetzt die Rush-Hour beginne. Die Stosszeit für ‚Fish and Chips‘! Das ist jenes Gericht, das im Rohzustand Kartoffel und Fisch beinhaltet, und dann so lange im heissen Öl frittiert wird, bis auch der hinterletzte Maori an Gewichtsproblemen leidet. Und tatsächlich. Als wir unsere Räder schleunigst wegräumen, ist die Parklücke in Sekundenschnelle besetzt. Es ist eine Mutter mit zwei Kindern, die sich nach Feierabend zur Fish-and-Chips-Bude stürzt. Die Schlange vor dem Fastfood-Schuppen reicht mittlerweile schon bis aufs Trottoir hinaus. „The best in town“, sagt der Mann, der unsere entsetzten Blicke verfolgt und dem nun alles noch viel peinlicher ist. Er trollt sich schleunigst von dannen – wir ahnen es: an die Theke mit Frittiertem.

Ebenfalls wie unzivilisierte Barbaren fühlen wir uns auf der Zugfahrt, die uns von der Südspitze der Nordinsel ins Landesinnere bringt. Die einzige Zugsverbindung des Tages fährt um 19:30 los. Ideal also für ein Picknick im Zuge, denkt sich der Kluge. Brot u Chäs und ein Schlückli Weisswein, ja, der Abend ist perfekt. Bis der Kondukteur vorbeikommt, auf unserer Höhe zur Salzsäule erstarrt, die Weinflasche im Zeitlupentempo aus der Papiertüte zieht und uns mit ernster Mine mitteilt, dass wir hier illegal Wein tränken! Wir sind selbstverständlich entsetzt. Dass es verboten ist, eigenen Alkohol im Zug zu konsumieren, damit von der bordeigenen Bar „zwangsumiert“ wird, das stand leider weder auf unserem Ticket noch sonst irgendwo. Tja.

Zum Abschluss unseres Neuseeland-Abenteuers treffen wir auch noch auf einen bekennenden Velohasser. Wir sind spät unterwegs und schlagen deshalb ein zügiges Tempo an. Man will ja noch bei Licht im Zelte sein. Da entdecken wir etwas, was wir in Neuseeland fast nie getroffen haben. Einen Veloweg! Und was für einen! Er ist geschätzte 40 Zentimeter breit und anstatt flach der Strasse zu folgen, geht er ständig auf und ab. Da wir keine Zeit verlieren wollen und mit unseren sperrigen Seitentaschen sowieso jeglichen entgegenkommenden Velofahrer wegrasiert hätten, bleiben wir auf der Strasse. In voller Fahrt geht es zügig voran, bis mich ein Neuseeländer im Pickup überholt, vor mir anhält und mit den Armen rudert, als sei die Schwiegermutter im Hintersitz vom Herzinfarkt getroffen. Schweren Herzens ziehe ich also die Bremse. Der bärtige Herr teilt ungehalten mit, dass man wegen ‚folks like you‘, Gesindel wir uns, einen Veloweg gebaut hätte! Und dass es ja gar nicht ginge, dass wir jetzt auf der Strasse fahren! Denn man hätte EXTRA diesen Veloweg gebaut. Für uns! Ob wir das eventuell übersehen hätten? Obwohl ich vor Wut innerlich koche, enthalte ich mich zynischer Kommentare und fahre weiter. Als sich keine zweihundert Meter weiter vorne der extra für uns gebaute Veloweg übrigens in Nichts auflöst, komme ich dann doch kurz ärgerlich ins Schnauben…

Und nun sitzen wir also im Flugzeug nach Australien und sind gespannt auf unseren kurzen Zwischenstopp vor der Heimreise. Gemeinsam kleben wir beim Landeanflug an unserem Plexiglasfenster und schauen gebannt hinunter: Glitzerndes Meer, riesige Tanker, die Grossstadt glänzt. Es ist Liebe auf den ersten Blick.

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Abgeholt werden wir von unseren australischen Velofreunden Eve und Alex, die wir ein halbes Jahr zuvor im usbekischen Buchara zum ersten Mal getroffen hatten. In den nächsten Tagen werden wir von unseren Gastgebern verwöhnt, wie es nur geht. Wir unternehmen Küstenwanderungen, lernen die beste Gelateria der Stadt kennen, wandeln durch Parks und Gärten, bestaunen das Opernhaus, lachen über die bizarren Installationen des Kunstmuseums, essen Nudeln beim authentischsten Chinesen der Stadt, lernen an der hauseigenen Kaffeemaschine das Barista-Handwerk, treffen uns mit einer Gruppe von Freunden zum chinesischen Barbecue, degustieren australischen Wein und französischen Käse und spielen bis in alle Nacht. Es ist definitiv schöner, eine Stadt durch die Augen der Einheimischen zu entdecken (siehe Fotogalerie). Thank you guys, it was wonderful!

Verloren, zerstört, gestohlen… versenkt!

Alles begann ganz harmlos. Erst waren es ein paar Löcher in den Handschuhen aus feinster Merinowolle in Scuol. Dann der spurlos verschwundene Hering in Kroatiens Sturmböe. Dann die gebrochenen Zeltstangen in Griechenland. Dann das streikende Objektiv in Turkmenistan. Soweit noch alles unter Kontrolle.

Die eigentliche Zerstörungswelle begann erst in China. Das heisst: Eigentlich fand sie ihren Anfang auf 4000 Metern Höhe in Tadschikistan. Der Wind weht so stark, dass Christians parkiertes Velo umfällt, genau auf den am Lenker hängenden Helm. Das Zersplittern in tausend Styropor-Teile klingt lustig – doch ist der Helm fortan nur mehr als Kopfschmuck zu gebrauchen. Und wir wissen noch nicht: Die Material-Zerstörungswut ging erst gerade los.

Im Osttibet verschwindet der teure Velohandschuh spurlos. Nach dem Objektiv verabschiedet sich nun auch die Olekularmuschel der Kamera. Das Rücklicht fällt ab. Der Speicherstick streikt. Die Stirnlampe setzen wir erst unter Wasser, dann wird sie unter der Wärmelampe abgefackelt. Und in einer spektakulären Aktion entledigen wir uns auch noch eines Bremshebels. Doch nicht nur das eigene Material gerät in den Fokus unserer zerstörerischen Kraft. In Hotels fallen Duschbrausen auseinander, geben Glühbirnen den Geist auf – wo wir hinkommen, herrscht Verwüstung!

In Malaysia verlieren wir im Tagestakt Speichen. Als wir das Übel in einem Video dokumentieren wollen, lassen wir gleich auch noch unsere Kleinbildkamera zu Boden fallen. Minus eine Kamera.

In Neuseeland fokussieren wir uns vor allem auf das Outdoormaterial. Bei einem besonders hart zu knackenden Boden spickt der Kopf des Herings weg. Die Naht am Zeltreissverschluss reisst auf, und künftig sorgt ein Klebband dafür, dass Mücken und andere Stechbiester draussen bleiben. Die Daunenmatte speit beim Abblasen jeweils tausend Federn in die Luft. Unsere T-Shirts aus Merinowolle haben von der Sonne und vom Schweiss Löcher, die sich nicht mehr stopfen lassen. In der Jugi klaut man uns die Trinkbecher und das Sackmesser. Langsam kommen Clochard-Gefühle auf.

Es ist nicht der eigentliche Verlust, der uns an den Nerven zerrt. Es ist der zermürbende Zerfall des Materials und das stete Organisieren von Ersatz, das uns zunehmend frustriert. Und die eigene Dummheit. Denn just als wir denken, dass es langsam nichts mehr zu verlieren und zerstören gibt, stoppen wir mitten auf einer Brücke für ein Foto. Mit Schwung nehme ich die Kamera hervor, den Objektivdeckel ab, und – oh Schock… er spickt aus der Hand und versinkt lustig flatternd im reissenden Fluss.

Es ist manchmal ein Segen, dass man nicht weiss, was die Zukunft bringt. Wer weiss, ob wir weitergefahren wären, hätten wir schon damals gewusst: In Italien wird uns auch noch ein Velo geklaut.

Unser K(r)ampf

Neuseeland, das war in unserer blühenden Fantasie ein bisschen Campingferien in grandioser Natur, wenig Verkehr und angenehmes Herbstwetter. Tatsächlich fühlt es sich aber an wie im Outdoor-Bootcamp. Als erstes belastet uns der Temperaturschock. Von über 40 Grad in Singapur auf 10 Grad und eisigen Wind sind wir körperlich nicht vorbereitet. Uns friert konstant, während die Neuseeländer ungerührt in Shorts herumrennen. Der Wind ist entweder des Velofahrers Freund oder aber ein garstiger Feind. Auf unserer Alpenüberquerung haben wir ihn ständig im Gesicht, teilweise so stark, dass wir kaum mehr vorankommen. Für eine kleine Verschnauf- oder Snackpause zwischendurch gibt es keinen Ort, an den man sich vor den Elementen schützen könnte. Kein Bänklein am Wegesrand, kein Picknickplatz, keine gedeckte Bushaltestelle. Entweder also wir sitzen bei Sturm und Regen am Boden, oder wir fahren weiter. Wenn die Sonne mal scheint, dann tut sie es unerbittlich. Obwohl wir unsere Rüben jeden Morgen mit Schutzfaktor 50 einreiben, glüht die Haut am Abend rot wie ein frisch gepflückter Pfirsich.

Es stellt sich zudem heraus, dass wir mit komplett falschen Vorstellungen in das Traum-Auswanderungsland vieler Europäer gereist sind. Hier die wichtigsten fünf Missverständnisse, ordentlich von uns aufgeräumt:

1. Neuseeland ist grün
Neuseelands Vegetation an der Westküste der Südinsel ist tatsächlich umwerfend dicht. Ein Regenwald mit riesigen Farnbäumen und Pflanzen, wie wir sie auch in den Tropen noch nicht gesehen haben. Doch der Osten der Südinsel und die Vulkanregion im Norden sind im Herbst alles andere als üppig. Vielmehr fühlen wir uns in die braunen Steppen Zentralasiens zurückversetzt. Und wäre da nicht das eine oder andere Schaf, man würde die kargen Grashalme glatt übersehen.

2. In Neuseeland kann man wilde, ungezähmte Natur geniessen
Ja, es gibt sie, die wilde, ungezähmte Natur. Doch in Neuseeland scheint der Landbesitz mehrheitlich privat zu sein. Menschen, die fernab von jeder Kriminalität inmitten der Natur leben, haben nichts zu verbergen und nichts zu beschützen – dachten wir. Doch das Gegenteil ist der Fall. Neuseelands Natur ist bis auf den letzten Meter eingezäunt. Und nicht nur das. Abschreckende Schilder warnen vor dem Betreten: „Tresspassers will be shot! Survivors will be shot again!“ Während in der Schweiz und in nordischen Ländern das „Jedermannsrecht“ besteht, muss man in Neuseeland beim Betreten von Grundbesitz um Leib und Leben fürchten. Die Einfahrten sind videoüberwacht und beim Anblick von bis zu drei Zaunreihen werden wir das Gefühl nicht los, die Landbesitzer wollen nicht ihre Köter, Schaf- oder Kuhherden vor dem Abhauen abhalten, sondern eine fremde, furchteinflössende Welt vor dem Eindringen. Vor was sie sich so fürchten? Wir wissen es nicht.

3. Neuseeland ist ein Campingparadies
Nein. Und schon gar nicht für Velofahrer. Es gibt sie, die staatlich betriebenen, einfachen Campingplätze, die meist an spektakulärer Lage in schöner Natur liegen. Das Problem für untermotorisierte Strassenverkehrsteilnehmer wie wir ist, dass diese meist sehr abgelegen über Schotterpisten zu erreichen sind. Die privaten „Holiday Parks“ andererseits kosten so viel wie in Bangkok ein Zimmer im Mittelklassehotel und bieten uns Velofahrern neben Legalität, einer (kostenpflichtigen) Dusche und einer Küche keinerlei Vorteile. Sie liegen zudem präferiert an einer Hauptstrasse und haben keinen Charme. Da wild campen seit einiger Zeit verboten ist und mit hohen Bussen bestraft wird, sind Velofahrer zudem gezwungen, die teilweise grossen Distanzen zwischen zwei Campingplätzen auf Biegen und Brechen zu überbrücken.

4. Neuseeland ist ein Veloland
Zugegeben, die Tourismusindustrie Neuseelands gibt sich alle Mühe, das Land mit immer mehr Mountainbike-Tracks zu überziehen. Der gemeine Tourenradler aber, der sich erfrecht, 40 Zentimeter der Strasse für sich zu beanspruchen, wird von vielen offen gehasst. Besorgte Einheimische halten mitten auf der Strasse an und warnen uns vor ihren rücksichtslosen Mitbürgern. Selbst passionierte Radler, die in Europa schon Tausende von Kilometern zurückgelegt haben, berichten uns, dass sie in ihrem eigenen Land niemals auf der Strasse fahren würden. Selbst auf der kurvigsten Landstrasse sind 100km/h erlaubt. Lastwagenfahrer und Autos überholen (man sagt uns: absichtlich) ohne Abstand. So absurd das auch klingt: So unsicher haben wir uns noch in keinem Land gefühlt.

5. Neuseeländer sprechen Englisch
Nein.

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Als wir aus unserem Apfelparadies aufbrechen und weiter Richtung Westküste fahren, lockern sich die Wolken allmählich auf. Der Himmel wird blau, Wind- und Regenjacke werden verstaut und wir geniessen erstmals ein Picknick in vollem Sonnenschein. Vor uns liegt der stahlblaue Lake Hawea. Im Abendlicht fahren wir weiter an einen pittoresken Zeltplatz auf einem Schwemmkegel im Wanaka-See. Wie viel das Wetter doch ausmachen kann! Auf der wunderbaren Fahrt durch voralpines Gebiet atmen wir erstmals so richtig durch: So würde es sich doch leben lassen! An einem Aussichtspunkt hoch über den Seen treffen wir auf eine Truppe Taiwanesen, die soeben aus ihrem Tourbus entweicht. Der bärtige Chauffeur steigt gelangweilt aus und schaut uns sichtlich amüsiert an. Er fragt nach unserer Route und hebt entrüstet die Augenbraue. Was, auf die Nordinsel wollt ihr?

Bärtiger Touristenführer, dezidiert: Dount weischt yar taim!
Wir: Pardon?
Er: Don’t weischt your time! Nothin‘ to see. And awful people.
Wir, verwirrt: Aber die Nordinsel hat doch Vulkane und schöne Beaches?!
Er: I don’t do beaches.
Wir: Hä?
Er: Beaches are like little dogs.
Abgang.

Bei ebenfalls schönstem Wetter radeln wir am nächsten Tag durch wilde Täler und geniessen beim Aufstieg auf den Haast-Pass den Ausblick auf weissverschneite Gipfel. Doch die Idylle dauert nur, bis wir in Haast die Westküste erreichen. Ab hier ist Ende der Welt! Ein Geburtstags-SMS können wir nur via Satellit absetzen, denn hier gibt es weder Handyempfang noch Internet. Die Versorgung wird für uns Langsamfahrer zur Herausforderung, denn der nächste kleine Lebensmittelladen beim Fox-Gletscher ist 120 Kilometer weit weg. Dank langen Etappen und endlosem Auf und Ab steigt unser Kalorienverbrauch gefühlt ins Unendliche. Entsprechend kostspielig wird das Einkaufen: Allein ein lampiges, geschnittenes Vollkorntoastbrot kostet hier 6 NZ-Dollar. Diese Ungewissenheit, wann man zum nächsten Mal an Futter kommt, hat uns seit Zentralasien nicht mehr begleitet. Und ab sofort werden wir noch von einem weiteren Übel geplagt: Sandflies. Jeder noch so kurze Stop endet in wilder Flucht, sobald uns die schwarzen, stechenden Bestien entdecken. Das Kochen im Freien wird zeitweilig zum Akt der Verzweiflung. Wo kein Stück Stoff den Körper bedeckt, stechen die Viecher im Dutzend gnadenlos zu. Zum Glück sind die Biester nicht intelligent, doch sie kompensieren das locker mit Masse. Ihre Stiche werden hart, rot und beissen noch Wochen später…

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Lassen uns nie zur Ruhe kommen: Regen, Moskitos und Milliarden von Sandflies…

Auch die Strasse ist nun stärker frequentiert, denn die Westküste scheint das Ziel aller Touristenträume. Vier Kategorien von Touristen teilen ab sofort mit uns die Strasse:

A. Die mittellosen Backpacker
Sie sind 18 oder 19, kommen aus Deutschland, Holland oder England und fahren uns in alten, abgewetzten Karossen vor. Sie sind meist allein oder zu zweit und wir fragen uns: Was macht diese Touristengruppe ausgerechnet im sauteuren Neuseeland? Wieso sitzen die nicht alle im billigen, warmen Südostasien? Irgendwann ist jemand so nett und klärt uns auf. Neuseeland vergibt ohne grosse Nachfrage einjährige Working-Visa an Jugendliche, die sich dann auf Plantagen, Weingütern oder Hostels als billige Arbeitskräfte verdingen. Da hier der Autobesitz im Gegensatz zu Europa zu den indiskutablen Grundrechten gehört, ist ein Autokauf so unkompliziert wie der Erwerb einer Kopfschmerztablette. So verkaufen sie sich gegenseitig ihre gebrauchten Schwarten und gondeln durchs Land. Sie telefonieren via Skype überlaut und stundenlang mit Mutti und Vati in der fernen Heimat und erzählen von ihren Abenteuern. Mittellos sind sie übrigens keineswegs: Hier ein Bungee Jump, da ein Helikopterflug, das verdiente Geld wird gerne mit beiden Händen wieder ausgegeben.

B. Die naturbegeisterten Mittdreissiger
Sie sind dem goldenen Ruf Neuseelands als Naturparadies gefolgt, reisen ausschliesslich als Pärchen und können sich bei dem Apotheker-Preisniveau keinen grossen Camper leisten. Also reisen sie im gemieteten VW-Büchsli ohne WC durchs Land und finden alles toll. Sie haben zwei bis drei Wochen Zeit, bis sie wieder an ihren Arbeitsplatz im Hochpreisland zurückkehren, und wollen deshalb einen möglichst ungestörten Urlaub verbringen. Meist sprechen sie Deutsch. Motto: Wir reisen dahin, wo es aussieht wie zuhause. Super!

C. Die Velofahrer
In keinem anderen Land auf unserer Reise haben wir so viele Velofahrer getroffen wie hier. Wir können immer noch nicht ganz nachvollziehen, weshalb so viele Leute den Aufwand auf sich nehmen, ihre Fahrräder flugzeugtauglich zu verpacken, 25 Stunden um den halben Globus fliegen, um dann in einem sandfliegengeplagten Anti-Camping-Paradies mit wettertechnischen Herausforderungen und einem potenziell tödlichen Fahrstil der einheimischen Lastwagenfahrer ihre hart verdiente Aus- oder Ferienzeit zu verbringen. Haben wir bisher stets bei jedem Reiseradler für ein kurzes Schwätzchen gehalten, fahren die Velotouristen hier meist still winkend an uns vorbei und auch wir halten nur noch an, wenn die andere Partei mit mindestens fünf schweren Satteltaschen durchs Land fährt. Natürlich aber sind auch sie alle hell begeistert vom Land.

D. Die arrivierten Frührentner
Sie haben sich trotz horrenden Kosten ein ansehnliches Wohnmobil geleistet. Stellen es jeden Abend zu einer ebenfalls ansehnlichen Summe in einem zivilisierten Campingplatz mit Stromanschluss auf. Aus ihrer Kombüse klingt wohltemperierter Jazz, soeben haben sie eine Flasche Weisswein zum Apéro entkorkt, schmökern in ihrer philosophischen Literatur und lassen es sich aus ihren prall gefüllten Vorratsschränken so richtig gut gehen. Sandflies kennen sie nur vom Hörensagen, denn wenn sie ihr abgeschirmtes Zuhause verlassen, sind sie stets von unten bis oben mit Chemie eingesprayt. Wie wir sie beneiden!

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Zugegeben: Die Schuld für den gefühlten K(r)ampf liegt nicht zuletzt bei uns. Bis wir vom Wirbelsturm ausgebremst werden, erradeln wir in 16 Tagen 1235 Kilometer und fast 10’000 Höhenmeter und legen dabei gerade mal einen einzigen Ruhetag ein. Hotelnächte: Null. Mangels eingehender Planung (die gebrochenen Speichen lassen grüssen) haben wir uns in zu kurzer Zeit wohl auch schlicht zu viel vorgenommen. Vielleicht ist es aber auch, weil wir die Neuseeländer nie ganz verstehen. 🙂 Eine typische Konversation verläuft ungefähr so:

Neuseeländer: Giddaymait! (Good day mate)
Wir: Äh, hello!?
Neuseeländer: Öü dia. Söü yü aa raidin this push baik ull ouver Niüziilind? Aid ratha taik maicah! (Oh dear. So you are riding this bicycle all over New Zealand? I’d rather take my car!)
Wir: Äh?
Neuseeländer: Aa yü oooolrait? Yü hiv tü tün lift at the rid lait! Büt döünt botha, yüll git thia. Ai bit ya’ll faind it quicklei! Yü aa a veri spischal piasen. (Are you alright? You have to turn left at the red light! But don’t bother, you’ll get there. I bet you’ll find it quickly. You are a very special person.)
Wir: Wäs?
Neuseeländer: Oooossummait! Nöü würries! Nöü würries! (Awesome, mate! No worries! No worries!)

(PS. Mit Hilfe dieses amüsanten Videos haben wir dann noch ein bisschen geübt…)

An der Westküste holt uns das trübe, nasse Wetter wieder ein und oft radeln wir unter wechselndem Sprühregen. Dennoch gefällt uns die Fahrt von Greymouth nach Westport ausserordentlich. Die tief zerklüftete Küste und die Pancake Rocks sind ein echter Hingucker. Auch die Fahrt von der Westküste weg durch die Buller Gorge entlang des breiten Buller-Flusses gefällt uns super. Immer wenn sich das Wetter von der goldigen Seite zeigt, macht das Fahrradfahren in Neuseeland tatsächlich Spass.

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Auf dem Weg von der Westküste zur Nordspitze der Südinsel kommen wir mit einem kauzigen, älteren Herrn ins Gespräch, der gerade – wie praktisch jeder Neuseeländer – seinen Rasen piekfein mäht. Mit ungläubigen Augen schaut er uns an, als wir kundtun, dass es zum Velofahren heute doch etwas kühl sei. Er wischt sich die Stirn ab und meint, nein, eigentlich sei es direkt heiss heute. Und ruft uns beim Davonfahren noch nach: „And don’t forget to check the weather!“ Pardon: „Änd dint firgit tü chick the witha!“ „Tersch a schtorm coming!“ Ein Wirbelsturm?!? Bei nächster Gelegenheit werfen wir den Computer an und rufen ein paar neuseeländische Wetterseiten auf. Tatsächlich: Rot prangt ein Warnhinweis fürs kommende Wochenende: „Severe weather alert!“ Herrje, das kann ja heiter werden!

Furt kommt zrügg

finishWas furt.ch geht, muss irgendwann auch wieder zrügg.ch. Am Freitag, 2. Mai 2014 fahren wir unsere allerletzte Etappe von Weggis zurück nach Zürich.

Wer sich wie wir von ein bisschen Regen 🙂 nicht vom Spass abhalten lässt, trifft uns um 14 Uhr am Bahnhof Cham zum gemütlichen Ausrollen auf den finalen 35 Kilometern. Um 17 Uhr treffen die beiden Velozigeuner definitiv in Zürich ein, wo sie ihr ungepflegtes Äusseres und ihre verwilderte Art erstmals an der Zivilisation austesten. Diejenigen mit Schlechtwetteraversion oder Goretex-Allergie finden uns ab 17.00 Uhr im Café des Amis. Dort nehmen wir in aller Gemütlichkeit unser letztes (oder erstes) Bier, bevor wir die letzten Meter nach Hause pedalen.

dancinghall
Auf bald!