Tränen(gas) beim Kuaför
Der Blick aus dem Fenster bestätigt uns in unserer Entscheidung, die letzten 70 Kilometer vor Istanbul auf den Bus umgestiegen zu sein. Die pannenstreifenlose zweispurige Autostrasse mündet in ein drei- und vierspuriges Ungetüm, das sich immer dichter und gefährlicher Richtung Stadt wälzt. Wir sitzen währenddessen gemütlich und sicher in unserem weichen Sitz und kriegen einen heissen Kaffee serviert, was will man mehr!
Nach rund eineinhalb Stunden fahren wir in ein gewaltiges, mehrstöckiges Busterminal ein. Wir haben immer noch keinen blassen Schimmer, wo uns der Bus ausspucken wird. Nur soviel ist sicher: Irgendwo in den gesichtslosen Vororten der 14-Millionenstadt Istanbul. (Info für andere Velofahrer: Man landet im Otogar Bağlantı Yolu, 10 Kilometer ausserhalb des Zentrums). Eins, zwei, zack, zack sind unsere Taschen und Fahrräder ausgeladen. Unsere Taschenmontiertechnik ist inzwischen so ausgefeilt, dass wir die Dinger schneller montiert haben, als der Gepäckträger einatmen kann. Ein solcher kommt nämlich dahergerannt mit seinem Chäreli und ist ordeli enttäuscht, als wir ihm auf lupenreinem Türkisch (…) vermitteln, dass es hier nichts wegzuträgeren gibt. Er fragt zur Sicherheit zwar noch zwei Mal nach, aber da wir ungebrochen freundlich grinsen, gibt er auf und will dafür mit aufs Erinnerungsfoto. Diesen Gefallen tun wir ihm gern. Et voilà:
Dank gehörlosenfreundlichen Handzeichen und wildem Gefuchtel der Busterminal-Angestellten finden wir irgendwann auch mal den Ausgang aus dieser gigantischen Anlage und landen bei Ikea. Obwohl die eine oder andere Kleinigkeit ja immer noch ins Gepäck passt, entscheiden wir uns gegen einen Besuch und fahren dank Navigation auf Nebenstrassen durch Istanbul, unser Ziel: Der Taksim-Platz. Nach beschaulichen Quartierstrassen, Parkanlagen und einer Fahrt entlang des Bosporus gibt es zum Schluss nur noch ein Problem: Wir müssen über das Wasser! Zielstrebig, gemäss Anweisung unseres GPS, navigieren wir auf eine Brücke zu. Zwar erstaunt uns schon ein wenig, dass mitten drauf ein Restaurant sitzt und man uns galant zu einem gebratenen Hähnchen überreden will. Irgendwann bemerken wir dann aber den fatalen Irrtum: Es fehlt ein (entscheidendes) Element auf der Brücke und Weiterfahren wäre ein totaler Reinfall gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Wir schieben also unser Gefährt an zahllosen Fischern vorbei auf einer anderen Brücke über den türkischen Ärmelkanal und finden nach Stunden mit Hängen und Würgen (und vor allem Stossen) unser Apartment. Es befindet sich an einer ruhigen Wohnstrasse nur 500 Meter vom Taksimplatz entfernt. Nachdem wir uns häuslich eingerichtet haben, beschliessen wir, am Ort des Geschehens gleich selber einen Augenschein zu nehmen.
Was wir in den kommenden Stunden und Tagen auf dem Platz und in den Gassen sehen, hat nichts mit randalierenden Randgruppen oder auslandgesteuerten Zerstörungswütigen zu tun. Es sind hunderte, ja tausende ganz normale Türken wie du und ich, die ganz einfach ihre, Zitat, „selbstherrliche und diktatorische Regierung“ satt haben. Auf dem Platz herrscht friedliche Openair-Stimmung, und man sieht von sozialeifernden Komünisten bis hin zu ganzen Kindergärten alles. Jung und alt, klein und gross ist auf den Beinen, und es beeindruckt, mit welchem Humor, Elan und auch mit welcher Freude und welchem Gemeinschaftssinn die Bevölkerung ihren Unmut äussert. Auf Radio SRF3 haben wir unsere Eindrücke am 4. Juni in einer kurzen Telefonschaltung geschildert:
Zwar gibt es auch Schattenseiten wie die üblichen Sprayereien, demolierte Bankomaten, Autos und Geschäfte, die jedoch wohl mehrheitlich eine wütende Reaktion auf das äusserst repressive und brutale Vorgehen der Polizei sind. Doch wenn Abend für Abend um 21 Uhr die Lichter ausgehen und in jeder Wohnung und sogar in den Restaurants auf Pfannen getrommelt wird, um der Solidarität mit den Demonstranten Ausdruck zu verleihen, fährt einem schon eine kleine Gänsehaut über den Rücken. Man wünschte sich, auch bei uns würde am 1. Mai mal auf Kochtöpfe getrommelt, anstatt die fiesen Kapitalisten mit Vandalismus zu martern.
Im Gegensatz zu anderen Touristen steht uns in den nächsten Tagen weniger der Sinn nach Blauer Moschee oder Hagia Sophia, sondern nach Konsulaten, sinnlosen administrativen Hürden und viel Ärger (die Visageschichten folgen bald!). Neben der Beschaffung der Zutrittserlaubnis zu „weiteren Demokratien, denen wir im nahen Osten nachreisen“ (danke fürs Zitat, Andy ;-)), gibt es einigen Kleinkram zu erledigen. Eine unerwartete Schwierigkeit ist es, unseren Gummizug am Flaschenhalter zu ersetzen. Während wir bei uns ganz einfach zu Migros-Do-It gestiefelt wären und da mit Sicherheit etwas gümmelimässiges gefunden hätten (leider kein Do-It bei Türk-Migros), strecken wir das zu ersetzende Teil in diversen Lädeli dem Besitzer ins Gesicht, doch keiner will so etwas im Sortiment haben. Bis uns die geniale Idee kommt, einfach mal nach „Elastik“ zu fragen, schon kommt ein Strahlen aufs Gesicht. Aaah, Lastik! Evet, evet, ja, ja! Glücklich und zufrieden marschieren wir mit 10 Meter Elastikband aus dem Laden. Kostenpunkt: 1 Franken 50.
Eine etwas grössere Herausforderung ist es, unser wucherndes Kopfhaar angemessen zu stutzen. Christian, mutig wie er ist, stürzt sich als erster ins Gefecht und sucht sich einen Herrencoiffeur, bei dem man nicht schon von aussen sieht, dass man vornüber gebeugt die Haare waschen muss (ui, das sieht dann richtig schmerzhaft aus) und die Sache mit einer Kleinsense erledigt wird. Als er zurückkommt, trifft mich trotzdem fast der Schlag: Entweder als Akt der Gnade (Mann kaschiert doch gern die kahlen Stellen) oder aus purer Unfähigkeit wurde das oberste Haar um den Wirbel herum nicht gestutzt. Er sieht aus wie vom Stamme der Irokesen. Mangels angemessenem Gerät muss ich mich nun also mit der Sackmesserschere ans Nachschneiden machen. Geht ja gar nicht!
Von dieser einschneidenden Erfahrung geprägt, schiebe ich die Entscheidung „Haare bis China an den Bauchnabel wachsen lassen“ oder „Augen zu und sich verstümmeln lassen“ lange vor mich her. Am drittletzten Istanbultag ist es so weit. Ich sage mir: Entweder ich gehe zum Zahnarzt (schmerzhafter Zahn „Franz“ lässt grüssen) oder zum Kuaför. Beides tue ich mir nicht an.
Als ich dann auf dem Stühlchen sitze und auf meinen Maestro warte, bin ich nicht mehr so sicher, ob ich nicht doch in Richtung Flucht tendiere. Zu spät. Angehoppelt kommt Maestro, sein weinerlicher Gehilfe und eine kichernde Lehrtochter. Zum Glück habe ich vorher etwas recherchiert und gelesen, dass es in der Türkei komplett normal sei, dass mindestens drei Menschen gleichzeitig irgendwas am Haar werkeln. Da ich besonders mutig war und auch noch nach blonden Strähnen verlangte, habe ich alsbald Maestro und Gehilfe mit Chemie an meinen Haaren. Maestro, rechts, betupft nur den braunen Haaransatz, weinerlicher Gehilfe, links, bepflatscht die ganze Strähne mit Farbe. Anders als Zuhause, wo ich mich mit der Klatschpresse von der langwierigen Angelegenheit ablenke, bin ich hier voll dabei und bemerke die unterschiedliche Handhabe sofort. Ein klassicher Fall von: Die rechte Hand weiss nicht, was die linke tut! Da mein Maestro nur marginal Englisch kann („sori, onli tu levels of Inglish in skul!“) und der Gehilfe gar nicht (auch nicht weinerliches Englisch), lasse ich es, die beiden darauf hinzuweisen und stelle mir schon vor, wie schön es wird, wenn ich auf der einen Seite anders blond bin als auf der anderen. Ich habe mich aber sowieso auf das Schlimmste eingestellt, deshalb lässt mich das innerlich noch kühl.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Ich spüre ein komisches Beissen in Augen und Nase, die Lehrtochter liegt dramatisch auf den Boden und wimmert und der weinerliche Gehilfe stürzt aus dem Zimmer und kommt mit einem Handtuch vor dem Mund zurück. Tränengasattacke! Nett wie er ist, bringt mir der weinerliche Gehilfe irgendwann auch ein Tuch. Es wird immer unerträglicher, wie es in Hals, Nase und Augen brennt. Nur mein Maestro macht – ganz Mann – ungerührt weiter, flucht auf die „faschistischen Polizisten“ und zieht Vergleiche zu hier nicht genannten schnauzbärtigen Schreckfiguren aus der deutschen Historie.
Ich halte die Situation zwar nach wie vor für nicht so tragisch, doch draussen schreien die Demonstranten ohrenbetäubend, und dies ziemlich genau unterhalb unserer Fensterfront (natürlich sperrangelweit geöffnet). Die Gaswolke wird immer beissender, unsere Augen laufen rot an und man sieht fast nichts mehr. Plötzlich kommt der oberste Chef angeschwebt, ein türkischer Beau mit langem, braunem Haar und Rehaugen und sagt in seinem bestem Englisch: Kwik, kwik! Er schnappt sich das Chäreli von Maestro mit dem Bleichmittel und säuselt „kwik, kwik„. So quick wie es geht mit Alustreifen im Haar und Tüchli vor dem Mund hechle ich dem Beau nach in den oberen Stock, wo geschlossene Fenster und eine Klimaanlage für etwas erträglichere Luft sorgen. Oben versammelt ist das ganze Kuaför-Personal, von dem die Frauen ganz dramatisch vor sich hinwürgen und so aussehen, als würden sie leider demnächst dahinscheiden (wie man merkt, fand ich das doch etwas übertrieben). Es wird so dramatisch, dass die bekopftuchte Putzfrau sich in einem unbeobachteten Moment *zwack* mein Tränengas-Schutztuch schnappt und erleichtert durchs Tüchli keucht. Ich denke: Hah, hier ist der Kunde noch König, und grinse mundschutzlos in den Spiegel.
Irgendwann beruhigt sich die Szenerie soweit, dass mein Maestro mit dem Pinsel zu seinem Arbeitsplatz (Ich) zurückkehrt. Der weinerliche Gehilfe ist leider nicht mehr im Stande, ihm beizustehen, denn er ist beschäftigt, die Angelegenheit furchtbar zu finden. Also werkelt Maestro ab sofort alleine in meinem Haar. Das heisst, irgendwann wird dicklicher Gehilfe 2 herangerufen, man solle meine blonden Mèches föhnen. Nachdem er ewig keine Steckdose findet, lässt er als erste Amtshandlung seinen schweren Föhnaufsatz auf meine Schulter fallen. Wenig später fällt ihm dann der ganze Föhn aus der Hand. Und wer schon einmal heisses Alu angefasst hat, weiss: An der Kopfhaut oder am Ohr ist das kein Vergnügen. Dicklicher Gehilfe 2 weiss das offenbar nicht, also beisse ich die Zähne zusammen (habe ich sowieso schon, dank Tränengas) und denke: So viel Schusseligkeit auf einen Haufen, das glaubt man kaum.
Irgendwann kommt Maestro zurück, um das Werk seines Gehilfen zu betrachten. Offenbar wurde mein Ohr nicht genügend durchgeröstet, denn es wird nochmals kräftig Farbe nachgepinselt. Zum Glück ist die linke und rechte Hand jetzt am gleichen Mann, also wissen beide ungefähr, was die andere tut… Irgendwann werde ich dann erlöst und wieder in den unteren Stock geführt, wo einem immer noch der Atem stockt. Waschen. Gehilfe 3 spült ausführlich das Haar, und als ich denke, so viele Waschgänge kann es doch kaum geben, reibt er irgendeine Chemikalie in mein Haar und fängt an zu schrubben wie ein T-Shirt bei Handwäsche. „Was zum Geier…?“ denke ich, aber da ich nicht weiss, was Geier auf Türkisch heisst, lasse ich die Nachfrage. Als dann auch noch der oberste Chef heranschwebt und dem Gehilfen beim Haareschrubben kräftig mithilft, kann ich wenigstens sicher sein, dass dieses Prozedere in der Türkei offenbar normal ist.
Vermutlich, so mein naträglicher Erklärungsversuch, hatte der Gehilfe den Auftrag, die unterschiedliche Blondierung links und rechts auszubügeln. Denn als Maestro nach dem professionellen Schnitt mein Haar föhnt, bin ich komplett perplex: Alles piccobello. Es ist inzwischen abends um halb zehn und ich bin noch die einzige Kundin im Haus. Erleichtert begleiche ich meine Schulden und trete beglückt in die tränengasgeschwängerte Nacht. Wer hätte das gedacht! Nun bin ich bestens gewappnet für den Iran: Perfekt blondiert unters Kopftuch!
8 Kommentare
Emma
Haha! Köstlich! 😀
Ganz grosse Klasse. Und mutig!
Die Tränengasattacken kenne ich auch. Ein erhebendes Gefühl, wenn man zum ersten Mal ahnungslos in eine Wolke reinlatscht und dann hustet, spuckt und aus allen Löchern weint. Der kampferprobte Chilene schwört auf ein Stück Zitrone im Mund (selbst nicht ausprobiert).
Und wereliwer hat den Protest mit den trommelnden Pfannen erfunden?
Ja ganz genau. WIR.
http://www.zeit.de/1983/21/trommeln-auf-leeren-toepfen/seite-1
Moni
Juhuu…jetzt habt ihr die Haare wieder schön…ich bin stolz auf euch! Abgesehen davon: freut euch auf China: dort werden Haare PERFEKT geschnitten 😉
Polo
Hoffentlich habt ihr schon die feinsten kebap in Istambul gefunden 😉 ich hätte gerade Lust ins NewPoint zu gehen… Hihihii
LG
Polo
Daniel Wulle
Istanbuler-Live-Geschichten! Was für Erlebnisse, da bleibt euch nichts erspart. Trotz Recherchen wäre ich wohl auch zuerst zum Kuaför gegangen, wenn schmerzender Zahn noch erträglich ist… Es gibt nichts, was es nicht gibt, das mit dem Tränengas bei der intensiven Kuaför-Arbeit, der Maestro hielt sich tapfer trotz des Tränengases… Ein Nach-Kuaför-Bild von Christian fehlt noch. Wie geht es Kuno und Aphrodite bei den Türkischen Vorkommnissen wohl? Wie ist die Food-Umstellung gelaufen von Griechenland her? Ich würde mich auf einen Kebab einlassen – Türkisch-Made! Fährt gut weiter…
Nicole von Juri ;-)
Mich gwunderts, was du bezahlt hast – ws nicht viel?
Gibts vorher-nachher fotis? hihi
Liebi Grüesslis
Nicole
Yvonne
Natürlich war es unfair wie immer! Christians Irokesenschnitt (exklusive Haarwäsche und mit selber Nachschneiden) hat 20 Lira gekostet (= 10.-). Mein Blondieren, Waschen, Schneiden, Schrubben und Föhnen kostete 130 türkische Lira (= 65.-). Dennoch bin ich vollauf zufrieden: Solche Coiffeur-Preise gibts in der Schweiz wohl nur noch im ganz, ganz tiefen Appenzellerland. 😉
Susanne
… ja ja Föteli vom Endresultat fehlt!
Yvonne – du schreibst wunderbare Geschichten. Freue mich auf weitere Neuigkeiten.
Yvonne
…stimmt! Ich muss die Vorher-Nachher-Bilder zuerst aber noch der internen Revisionsstelle vorlegen. Falls extern zumutbar, werden diese in der nächsten Bildergalerie veröffentlicht. 🙂