Disneyland in Ashgabat

Turkmenistan. Was haben wir mit endloser Warterei und Bürokratie den Besuch dieses seltsamen Fleckens, dem heissesten Land Zentralasiens, erlitten! Und nun stehen wir am Metalltor des gemeinsamen Grenzübergangs von Iran und Turkmenistan. Zuvor hatten die Iraner unsere Pässe in drei verschiedenen Büros genauestens begutachtet, bevor sie uns ihr Land verlassen liessen. Auf der anderen Seite soll es nicht weniger beamtenhaft hergehen. Der erste Soldat kritzelt fein säuberlich die wichtigsten Informationen aus unseren Pässen in sein grosses Notizbuch, bevor wir überhaupt in die überdimensionierte Empfangshalle treten dürfen. Im Gegensatz zu den übrigen Passagieren – eine turkmenische Familie und eine Gruppe Aserbaidschaner – können wir unser Gepäck immerhin rollen, während diese ihre üppigen Einkäufe (Teppiche, Kissen, Stoffrollen – Iran muss ein Shoppingparadies sein!) von Hand schleppen müssen. Nach einiger Warterei dürfen wir unsere Pässe abgeben und werden ausgefragt: Tourist oder Transit? Ähm, das steht doch auf dem Visum! Wo gedenken wir hinzufahren? Ashgabat. Welches Hotel? Öh… Hotel Ashgabat? Und dann? Mary und dann Turkmenabat. Also drei Tage im Land? Nein, voraussichtlich fünf. Grosses Rätselraten: drei Städte, aber fünf Tage – wie machen diese beiden Fremden das bloss? Wir bedeuten, dass es mit einem Fahrrad durchaus etwas länger dauern könnte, bis wir an der anderen Seite der Wüste sind. Die Luke geht zu und wir warten erneut, während die Stoffrollen und der ganze Krempel der sonstigen Reisenden auf dem Förderband durchleuchtet werden.

Einige der anwesenden Frauen lassen diskret ihre Kopftücher verschwinden, Yvonne jubelt und tut es ihnen gleich – die neugewonnene Freiheit fühlt sich komisch, aber super an! Auch für mich ist das erschreckend seltsam: Schon nach einem Monat habe ich mich offenbar total an ihr verhülltes Erscheinungsbild gewöhnt…

Nach ungefähr einer Stunde scheinen die Beamten unser 5-Tage-3-Städte-Rätsel gelöst zu haben und bedeuten uns, es dürfe nun hinter einer weiteren Tür die Einreisegebühr von 11 Dollar pro Nase bezahlt werden. Bedauerlicherweise ist da niemand, was der Herr vor uns mit entnervtem Geklingel an der Läute quittiert. Ist das etwa schon der berüchtigte russische Schlendrian? Endlich erbarmt sich die zuständige Frau und nimmt uns das Geld gegen ein Stück Papier ab. Jetzt zu den Zollformalitäten! Das Einheitsformular II.B gibt es leider nur in russischer Ausführung, immerhin hängt aber in einer Ecke ein Beispiel, wie es auszufüllen ist. Wir machen uns an die Arbeit, bald jedoch winkt ein Soldat und deutet an, wie sollen das doch einfach bleiben lassen. Wir lassen uns nicht zweimal bitten und rollen vor den X-Ray. Alle Taschen aufs Band… und die Räder? Offenbar nicht! Drüben steht eine Horde Beamte, jetzt gehts ans Eingemachte. Nachdem man den Inhalt der Taschen auf dem Bildschirm schon betrachten konnte, will man die Ware jetzt offenbar auch noch in die Hand nehmen. Jede Tasche wird auf dem Präsentiertisch fein säuberlich ausgepackt. Der eine ertastet anerkennend meinen Daunenschlafsack, während ein anderer leicht irritiert mit meinem Glöcklein aus Griechenland bimmelt. Eine Hotelseife aus Istanbul scheint ebenfalls höchst interessant zu sein. Kritisch wird es bei unserem kleinen Döschen mit gehackten Chilischoten: Ein dritter Beamter schnuppert minutiös daran, verzieht das Gesicht und fragt, ob das zum Rauchen sei?! Wir verkneifen uns das Lachen, denn noch immer ist die Hälfte unserer zwölf Taschen zu kontrollieren – unter anderem die Apotheke mit Antibiotika, die hier als Drogen klassifiziert und uns abgenommen werden könnten, oder der benzinbetriebene Kocher, ebenfalls ein sicherheitstechnisch hochriskantes Gerät. Glücklicherweise verlieren die Staatsdiener recht bald das Interesse: Wir packen unsere ausgebreiteten Sachen eiligst zusammen und machen uns dem Staub – hinein ins Niemandsland, wo Anhalten und Fotografieren strengstens verboten ist.

Von über 1500 Metern Höhe düsen wir rasant hinunter nach Ashgabat auf noch gut 200 m.ü.M., immer die Warnung des Grenzbeamten im Ohr: „Don’t stop, don’t take pictures!“ Ausser einer Handvoll Minibussen, die die wenigen Passagiere zur Grenze hoch- oder in die Stadt runterfahren, begegnen wir keinem Anzeichen von Leben. Ein endloser Stacheldrahtzaun mit einem drei Meter breiten Kiesstreifen – uns erinnert das doch sehr an die DDR – windet sich quer durch die Landschaft bis hoch zu den Bergspitzen. In der Ferne blitzen die weissen Prunkbauten von Ashgabat auf, am Berghang ragt ein bizarrer weisser Turm in die Höhe. Es fühlt sich an, als wären wir ins Filmset einer Star-Wars-Episode reingeplatzt.

Nach einem weiteren Grenzposten, wo unsere Angaben wieder fein säuberlich in den grossen Notizblock eingetragen werden, sind wir endlich aus dem streng überwachten Grenzgebiet raus… und fahren ins streng überwachte Stadtgebiet. Der Kontrast zu Iran könnte nicht grösser sein! Dort herrschte auf mittelmässigen Strassen pures Chaos und wir husteten uns durch die abgasgeschwängerte Luft. Hier empfangen uns brandneue sechsspurige Alleen mit feinstem Teer und mit perfekt geschnittenen Grasflächen eingerahmt, leere Pärke, Fussgängerstreifen mit Lichtsignalen und Rampen für Rollstühle. Nur Verkehr hat es fast keinen. Auf Grossbaustellen werden weitere riesige Anlagen gebaut – unter anderem ein Olympiapark mit Fussballfeldern, wie wir dem Schild mit dem Baubeschrieb entnehmen.

Je weiter wir ins Zentrum fahren, desto surrealer kommt es uns vor. Wir fahren die Turkmenbashi Avenue hinunter, benannt nach dem 2006 verstorbenen Diktator Saparmurat Niyazov, dem ‚Turkmenbashi‘, Vater aller Turkmenen. Die riesige Avenue ist linkerhand flankiert von Palästen und Ministerien, die allesamt leer wirken. Gegenüber erstrecken sich Hunderte von Springbrunnen und Wasserspielen in der mit Bäumen und Blumen gesäumten Allee, gelegentlich unterbrochen von Statuen, Monumenten und bizarren Architektursünden. Und das mitten in der Wüste! Nur etwas können wir kaum ausmachen: Menschen, die in diesen gigantischen Anlagen verweilen. Auch die Gebäude scheinen seltsam unbelebt. Statt klaren Scheiben haben alle Glasfronten getönte oder verspiegelte Flächen, weshalb man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Die Autos auf den Strassen, sie sind alle blitzblank gereinigt. Wir sind irritiert: Sogar die älteste, klapprigste Karre glitzert in der Sonne! Kein Wunder, denn offenbar blüht jedem Fahrzeuglenker, der mit verdrecktem Wagen in die Stadt fährt, eine Busse. Zum Glück haben wir unsere Räder geputzt!

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Nach dem verstohlenen Festhalten dieser ersten Eindrücke mit der möglichst versteckten Kamera (fotografieren strengstens verboten) machen wir uns auf die Suche nach einer Unterkunft. Die Preise für Ausländer sind unverschämt hoch und das Aushandeln eines Rabatts unmöglich. Billiger? Njet! An der Rezeption sitzt in der Regel eine Matrone aus sowjetischer Zeit, an der die Perestroika offenbar spurlos vorbeigegangen ist. Auf entsprechend tiefem Niveau ist die Servicequalität. Wir mögen unsere kurze Zeit aber nicht mit Hotelsuche verschwenden und lassen uns im Hotel Dayhan nieder, zu dem der Lonely Planet trocken schreibt: „Expect nothing special here – rooms have not been refurbished since Brezhnev’s time, but they are perfectly adequate and the bathrooms are not actively revolting.“ Beim Hochtragen unseres Gepäcks wird Yvonne vom Putzpersonal argwöhnisch verfolgt und angewiesen, den schönen Zimmerteppich ja nicht mit schmutzigen Schuhen zu betreten. Wir fühlen uns wirklich herzlich willkommen! 😉

Nach einer kurzen Dusche treibt es uns raus ins pralle Leben Turkmenistans – und natürlich zum ersten Bier nach einem frugalen Monat in Iran. Und die Auswahl ist riesig: Da stehen sie, die Bierflaschen, gross und klein! Noch zahlreicher sind die Wodkaflaschen! Doch leider geht auch in Turkmenistan nichts ohne Geld und genau das fehlt uns. Wir irren durch ein riesiges Warenhaus, in dem es jede noch so exotische Delikatesse aus aller Welt gibt, aber es ist wie in einem bösen Albtraum: Nur schauen, nichts kaufen. Wie hart! Aus Griechenland haben wir immer noch vorwiegend Euro, die wir vorsorglich für Iran bezogen hatten. Hier wollen aber alle nur Dollar. Schmuckverkäuferinnen, Wechselstuben und Banken, niemand will unsere schönen 50-Euro-Noten eintauschen. Wir zapfen unseren Notvorrat an Dollar an und können damit gerade knapp ein ersehntes Bier und ein Nachtessen finanzieren. Prost!

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Bierglas, Vodkaglas, Wasserglas – die turkmenische ‚Prioritätenliste‘ fängt uns an zu gefallen

Obwohl wir uns ähnlich fühlen wie ein Bettler an der Zürcher Bahnhofsstrasse, geniessen wir das turkmenische Leben in vollen Zügen. Frauen in engen Jeans oder langen, bunten Röcken, und wenn Kopftuch, dann farbig! Nach unterschiedlich hohen Durchdringungsraten von schwarzen Tschadors in Iran – zuletzt in Quchan nahezu 100% – ist es eine Wohltat, die Turkmeninnen in ihren modischen, bunten Kostümen zu sehen. Die Minorität der Russischstämmigen hebt sich von diesen sichtbar ab – kurze Miniröcke, Sonnenbrillen in Herzform und enge Tops fallen auch hier auf. Noch viel erstaunter sind wir über das Wetter. Rät doch unser Reiseführer dringlich von einem Besuch in Ashgabat zu dieser Jahreszeit ab: „Only the insane or deeply unfortunate find themselves in Ashgabat in July and August, when the temperature can push 50 degrees.“ Und was passiert? Wir werden verregnet! Mitten in der Wüste.

Am Samstagmorgen finden wir dann doch noch ein Wechselbüro und beschliessen, auch gleich einen Teil unserer Euro in Dollar zu tauschen – letzterer ist halt doch immer noch die einzige wirkliche Weltwährung. Die Dame schaut die Scheine ganz genau an und gibt einige davon zurück – sie sind ihr zu wenig neu. Hat man Worte! Da fährt man durch Länder, in denen die schmuddeligsten Banknoten mit Klebstreifen zusammengeklebt oder als Notizzettel missbraucht wurden und nun werden quasi druckfrische Euronoten aus einem griechischen Bankomaten refüsiert!

Ausgestattet mit einer Handvoll Manat, der turkmenischen Währung, hält uns nichts mehr in diesem Disneyland. Das bisschen Feuchtigkeit des nächtlichen Regens ist schon längst wieder verdampft und wir machen uns auf die Suche nach der inoffiziellen Busstation, wo Kleinbusse und Taxis um Passagiere buhlen. Allerdings kommen wir offenbar gerade zu einer ungünstigen Zeit mit mehr Nachfrage als Angebote, und auf so einem Verkäufermarkt kriegt man selten ein gutes Angebot. Also geht die Feilscherei los. Absurde 100 Dollar und mehr wollen die Kollegen: Wir würden mit unserem Gepäck ja den ganzen Minivan belegen und somit entgingen ihnen die Einnahmen weiterer Passagiere. Während ich unsere Fahrräder bewache, feilscht Yvonne mit zig Fahrern hart um einen fairen Fahrpreis: Wie schön! Seit Betreten der Türkei war die Rollenverteilung immer umgekehrt…

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Als wir mit einem Fahrer einig sind und schon eifrig Taschen ins Fahrzeug hieven, kommt die nächste Masche: Zu viel Gepäck! Guter Mann, du hast doch unsere Velos vorher gesehen! Unter gütiger Mithilfe eines jungen Turkmenen, der eben erst von einem zweijährigen Studienaufenthalt in London zurückgekehrt ist, gelingt uns das Chartern eines Minilasters, der neben unseren Velos auch noch ein paar Spanplatten nach Mary transportiert.

Wir schmeissen den ganzen Krempel hinten in den Karren und nehmen neben dem Fahrer Platz. Es folgt die Fahrt auf einer Strasse, die selbst die Holperpisten Albaniens in glänzendem Licht erscheinen lassen. Welch ein Kontrast zum blitzeblank herausgeputzten Ashgabat! Kaum sind wir einige Kilometer aus der Stadt gefahren, ist Schluss mit Pomp. Unser Lastwägeli hebt mancherorts fast ab und wir zittern um unsere Räder, die hinten im Laderaum lose auf unseren Taschen liegen. Wir können nur noch beten, dass wir und vor allem die Velos heil ankommen. Gütigerweise hat unser fröhlicher Fahrer eine CD dabei, weshalb wir die bedrohlichen Geräusche unseres herumfliegenden Gepäcks nur noch in Gedanken miterleben. Stattdessen ergötzen wir uns an der Endlosschlaufe einer Auswahl eingängiger Songs, unter anderem einer eigenwilligen Coverversion von „Final Countdown“ (wie passend!) und einem echten Gassenhauer mit dem sinnigen Refrain „Little Sexy Lady“.

Sieben Stunden beten, dann sind wir in Mary, im Herzen Turkmenistans. Hinter uns liegen 350 Kilometer übelster Asphaltpiste und mindestens fünf bestochene Polizeibeamte. Es ist kurz vor Sonnenuntergang und wir müssen rasch entscheiden, wie es weitergehen soll.

  • Option 1: Den Zug nach Turkmenabat nehmen. Die Chance auf ein „Njet“ der Sowjetmatrone am Schalter liegt bei rund 99%.
  • Option 2: Sofort losfahren und noch möglichst ein paar Kilometer machen, damit wir die 250 Kilometer Wüstenfahrt nach Turkmenabat auf dem Velo in zwei Tagen schaffen.
  • Option 3: Sich hier ein Zimmerchen suchen und am Folgetag ein weiteres Fahrzeug nach Turkmenabat chartern – und sich so zwei Tage Wüstenritt ersparen.

Option 1, den Zug, schminken wir uns nach nervenaufreibendem Anstehen im Bahnhof und dem erwarteten „Njet“ der eiskalten sowjetischen Babuschka ab. Wieso alle anderen Zug fahren dürfen und wir nicht, werden wir mangels Russischkenntnissen nie erfahren. Leider ist es für Option 2, Weiterfahren, inzwischen auch zu spät. Es ist dunkel, die Läden sind jetzt geschlossen und wir können es nicht verantworten, ohne jegliche Wasser- und sonstige Vorräte in eine zweitägige Tour in die Einöde zu starten. Also fragen wir uns in der Wüstenstadt durch nach einer Bleibe. Fast 100 Dollar will ein einigermassen heruntergekommenes Dreisternehaus, ein übler Sowjetplattenbau will ähnlich viel und wir liebäugeln bereits damit, unser Zelt irgendwo in einen düsteren Park zu stellen. Am Stadtrand finden wir dann doch noch ein passables Motel. Auf dem spätabendlichen Ausflug zur Nahrungssuche begegnen wir sturzbetrunkenen Turkmenen, die nach einer Hochzeitsfeier auf dem Boden herumliegen. Nur ein Gasthaus oder zumindest einen kleinen Supermarkt finden wir nicht. Einzig in gebrauchte 1,5l-Plastikflaschen frisch abgefülltes Bier wird uns angeboten. Da sagen wir für einmal „njet“!

Nächstentags geht es wieder los mit Taxisuche, die Preisverhandlungen sind zäh und nach komplett eingeladenem Gepäck ist der Preis dann erneut höher als abgemacht, weil die Velos einen zusätzlichen Sitz belegen. Schliesslich geht es aber doch los in die ominöse Karakum-Wüste. Der Strassenzustand ist spürbar besser und unser Fahrer tritt kräftig aufs Gaspedal. Doch plötzlich fängt er wie wild an zu winken und macht seltsame Handzeichen. Hat ihn der Wüsten-Koller erwischt? Nein, es handelt es sich offenbar um ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem, um sich gegenseitig vor Polizeikontrollen zu warnen. Tatsächlich, wir können es kaum glauben: Alle zehn Kilometer sitzt wieder ein einsamer Polizist mitten in der leeren Ödnis und büsst Temposünder. Unglaublich!

Dank diesen Handzeichen und einer entsprechend rasanten Fahrt stehen wir bereits drei Stunden später auf dem Bahnhofsplatz von Turkmenabat. Wie schon in Mary gibt es hier so gut wie gar nichts zu sehen, weshalb wir beschliessen, die Strecke bis zur usbekischen Grenze gleich anzuhängen. Vielleicht schaffen wir es ja sogar noch, die Einreiseformalitäten zu erledigen!

Die Mittagshitze lassen wir aus und verbringen zwei fröhliche Stunden in einem schummrigen Lokal, wo das russisch angehauchte Personal und auch die wenigen anderen Gäste ihre helle Freude an uns zwei Exoten haben und uns einen kleinen Russisch- und Turkmenischkurs geben. Wir bestellen eine Pizza Margherita und dazu ein Bier, mmmh! Stuzig macht uns einzig, als die Bedienung nach aufgenommener Bestellung zurückkommt und fragt, ob wir unsere Margherita mit Fleisch oder mit Poulet haben möchten. Ähm, am liebsten weder noch! 😉

Gestärkt und beschwingt machen wir uns auf zur Grenze. Diese schliesst um 18 Uhr und wir haben sowohl die Distanz als auch den Gegenwind unterschätzt. Kurz nach der Stadtausfahrt ist der Amurdarya-Fluss zu überqueren. Was für ein Gegensatz zur Anfahrt nach Ashgabat zwei Tage zuvor! Vom Prunk der vielen Erdgasmilliarden ist hier gar nichts mehr zu spüren. Eine baufällige, rostige Pontonierbrücke gewährleistet die Verbindung zum östlichen Nachbarland. Einige Kilometer weiter schauen wir verdutzt auf unser GPS: Es führt uns von der passablen Strasse scharf links ab auf ein unscheinbares Nebensträsschen. DAS soll die Hauptverkehrsachse ins Nachbarland Usbekistan sein? Ein Lastwagenfahrer schafft Klarheit, die Richtung stimmt. Im Abendlicht nehmen wir diesen letzten, lauschigen Abschnitt einem kleinen Fluss entlang unter die Räder. Es ist schon längst nach 18 Uhr und wir halten bereits Ausschau nach einem geeigneten Zeltplätzchen, als am Horizont die endlose Kolonne wartender Lastwagen auftaucht.

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Wir fassen uns ein Herz und fahren frech an allen vorbei bis zur Schranke. Die Lastwagenfahrer bedeuten uns, es sei geschlossen, wir sollten viel lieber mit ihnen Tee trinken. Doch was passiert? Ein Soldat winkt mich heran und will unsere Pässe sehen. Ein Blick auf die Visa, die Schranke geht hoch und wir dürfen uns an die Ausreiseprozedur machen. Wiederum stochern ein paar Beamte lustlos in unseren Taschen herum, geben aber schnell wieder auf: „Goodbye!“ Das wars?!? Kein Durchsuchen der Kamera nach verbotenen Bildern wie bei anderen Travellern? Nichts mit der dubiosen Ausreisegebühr, die wir extra schon bereithalten? Ist ja ein echter Service Public hier! Wir schwingen uns auf die Räder und fahren ein paar hundert Meter, bis wundersam vertraut der erste usbekische Soldat unsere Pässe sehen will. Es wird also nichts mit einer Zeltnacht im Niemandsland…

Papierlos in Zentralasien gestrandet

Unsere usbekische Pechsträhne startet netterweise schon drei Kilometer vor der eigentlichen Grenze. Eigentlich hätten wir gleich umdrehen und noch ein paar relaxte Tage in Turkmenistan anhängen sollen, haha. Auf einem unscheinbaren Asphaltsträsschen radeln wir in Richtung Landesgrenze, als mir plötzlich dieser hübsche Esel vor die Linse hüpft (na gut, hüpfen ist übertrieben, er war in Tat und Wahrheit recht immobil):

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Doch dies soll leider mein letztes Foto gewesen sein. Denn genau drei Sekunden später gibt das Objektiv den Geist auf. Zack. Einfach so. Ein erster wirklich schmerzlicher Verlust!

Was wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen: Dieses O‘zbekiston hat noch einige Überraschungen dieser Art für uns im Köcher. Und so strampeln wir vorerst noch topmotiviert ins neue Abenteuer. Irgendwie fühlt es sich an wie auf der Flucht aus Guantanamo: Bis auf die Zähne bewaffnete Militärs, meterhohe Grenzzäune überwacht von trotzig aufragenden Wachtürmen, zig Checkpoints mit zig Passkontrollen (wie könnten wir denn in den paar Metern seit der letzten Passkontrolle noch schnell eine Fälschung machen?) und die Strasse ist nur noch ein Kiesweg. Ein Wunder eigentlich, dass man uns nicht aus purer Vorsicht präventiv erschossen hat. Die meisten Drogen werden bekanntlich ja auf Fahrrädern ausser Landes gebracht. 😉

Zu unserer grossen Überraschung ist die usbekische Seite der Grenze noch offen – und nicht nur das, nein, es ist sogar noch einiges los in diesem Nadelöhr der Diktaturen. Im Gegensatz zur turkmenischen Seite werden hier noch munter Lastwagen abgefertigt und es herrscht ein geschäftiges Treiben.

Wir treten durch ein eisernes Metalltor und schieben unsere Räder mangels anderer Instruktionen einfach mal auf den Ausgang zu. Kann ja nicht so falsch sein, oder? „STOOOOOOOOOOOPPP!!!!!!“ brüllt es hinter uns, und wir erstarren zur Salzsäule. Der barsche Ton lässt keine Zweifel offen, dass wir gerade etwas sehr, sehr Verbotenes getan haben. Aber was? Oh! Wir haben den Grenzposten total übersehen. ‚Tschuldigung! Das Ding hat ja aber auch nur die Dimension einer leicht ausgebauten Damentoilette…

Wir treten in ein unscheinbares Gebäude mit mehreren kleinen Büros. Im ersten sitzt der Arzt. Gesundheitskontrolle. Er: „Seid ihr krank“? Wir: „Nein“. Er findet das schon mal sehr beruhigend, holt aber dennoch ein futuristisches Gerät in Form einer Plastikpistole hervor und hält es uns an die Stirn. Temperatur in Ordnung, er winkt uns durch: Alles bestens! Da sind wir aber froh.

Wer gemeint hat (wie wir), das sei es nun gewesen, ist kein Kenner der usbekischen Gründlichkeit. Zweite Station ist die eigentliche Zollabfertigung. Während sämtliche unserer Taschen durchleuchtet werden, müssen wir ein mehrseitiges, leider nur in Russisch erhältliches Formular ausfüllen. Und zwar in doppelter Ausführung, bitte! Schade, hat es die Erfindung des Durchschlagspapiers noch nicht bis nach Usbekistan geschafft. Mit Hilfe eines französischsprechenden Usbeken (wir sind erstaunt) und einer netten Russin, die in Turkmenistan arbeitet (wir sind noch erstaunter), schaffen wir es, sämtliche unserer Wertsachen und Devisen korrekt zu deklarieren. Wen es eigentlich so brennend interessiert, dass wir unter anderem 400 Thai Baht mit im Gepäck haben, bleibt für immer ein ozbekisches Geheimnis.

Es ist inzwischen spät geworden. Die Dämmerung bricht herein, und wir schlagen nur ein paar hundert Meter hinter der Grenze unser Zelt auf. Erfreut über die unerwartete Gesellschaft, stürzt sich sofort die gesamte Mückenpopulation des Landes auf unsere leichtbekleideten Extremitäten: Was für ein herzliches Willkommen!

Ein paar Stunden später brechen wir in der Morgendämmerung auf, denn es warten bis Bukhara 100 Kilometer auf teilweise sehr holprigen Strassen. Natürlich haben wir am Abend vorher die gierigen Geldwechsler an der Grenze schnöde ignoriert, was wir jetzt bereuen: Die Sonne brennt einmal mehr unerbittlich, und mit unseren restlichen turkmenischen Münzen lässt sich hier natürlich kein Getränke-Nachschub beschaffen.

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Die zweite schlechte Nachricht ereilt uns bei der Einfahrt nach Bukhara: Auf unserer Hostelsuche werden wir von den beiden australischen Radlern Alex und Eve angesprochen, von denen wir erfahren, dass der von uns angepeilte Grenzübergang nach Tadschikistan geschlossen worden ist (irgendwas mit verschüttetem Champagner soll des Zwists Ursache gewesen sein). Es blüht uns also ein happiger Umweg nach Norden oder Süden: Toll!

Doch es kommt noch schlimmer. Nachdem wir ein hübsches, traditionelles B&B gefunden und auf dem Schwarzmarkt endlich Geld gewechselt haben, krabbeln aus allen Ecken unzählige Fernradler. Auf dem Weg nach China trifft sich in Bukhara offenbar alles, was zwei Räder hat. Einerseits geniessen wir es, plötzlich wieder auf Touristen zu treffen und von der guten Infrastruktur zu profitieren (wir kosten den einzigen Segafredo-Kaffee des Landes, bei dem sogar die italienischen Touristen anerkennend in ein „Aaah“ und „Oohhh“ ausbrechen). Andererseits sind die prächtigen Moscheen hier nur noch für Touristen da, und es fühlt sich nach der chaotischeren, aber lebhafteren iranischen Variante irgendwie auch etwas steril an. Trotzdem geniessen wir Bukhara in vollen Zügen, insbesondere, da wir mit unseren polnischen Radlerkollegen Joanna und Jakub den iranischen Fastenmonat vergessen machen und ausgiebig das lokale Bier testen. Ja, genau so hatten wir uns unseren Usbekistan-Aufenthalt vorgestellt: Nach ein paar gemütlichen Tagen in Bukhara ohne Stress nach Samarkand radeln und uns dann im tadschikischen Dushanbe ein erstes Mal um ein chinesisches Visum bemühen. Falls das nicht geklappt hätte, hätten wir im kirgisischen Bishkek unser Glück versucht.

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Es soll leider anders kommen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich in der Velofahrercommunity die Schreckensnachricht, dass es in Kirgistan seit einigen Tagen für Ausländer nicht mehr möglich sei, ein chinesisches Visum zu beantragen. Kurz darauf die noch beunruhigendere Neuigkeit: In Tadschikistan würden Touristen erst gar nicht mehr zur chinesischen Botschaft vorgelassen. Wir sind schockiert: Von einem Tag auf den anderen scheinen uns in Zentralasien alle Wege zur Weiterfahrt versperrt. Doch der definitive Stimmungskiller folgt erst: Unser Notfallszenario, mit dem Flugzeug nach Hongkong zu fliegen und dort relativ einfach an ein Visum für Festlandchina zu kommen, zerfällt von einer Minute auf die andere in Schutt und Asche. Da China im September eine neue Visaregelung einführt, wurde dieses „Schlupfloch“ offenbar nun auch gestopft. Das kann ja nicht wahr sein: Wir sind in Zentralasien gestrandet!

Wir müssen nicht lange überlegen: Die einzige Möglichkeit, die uns noch bleibt: Schnellstmöglichst in die usbekische Hauptstadt Taschkent fahren, um dort unser Glück zu versuchen. Keine gute Lösung zwar, denn so bleiben uns für die Bewältigung des berüchtigten tadschikischen Pamir Highways maximal 30 Tage, was faktisch nicht ausreicht. Doch es ist unsere allerletzte Chance, und die wollen wir nutzen.

Da uns die Fahrt nach Taschkent per Fahrrad mindestens eine Woche wertvoller Zeit gekostet hätte, buchen wir uns zwei Sitze auf dem nächsten Nachtzug (eine lustige Erfahrung!) und sind 24 Stunden später in Taschkent. Das vor uns liegende Wochenende nutzen wir, um alle notwendigen Dokumente für den Visumsantrag zu beschaffen: Einen Flug nach Ostchina sowie Hotelbuchungen, eine Bestätigung, dass wir einen Arbeitgeber haben, die genaue Reiseroute, einen Bankkonto-Auszug und speziell fürs Chinavisum angefertigte Passfotos (zum Glück schon in Istanbul beschafft), auf dem kein Haar, keine Brille und kein lästiges Lächeln die Sicht auf das Gesicht des Antragsstellers verstellt.

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Am Montagmorgen fahren wir mit der U-Bahn zur Botschaft. Mist, zu spät aufgestanden! Vor uns warten mindestens schon 30 Personen – und zwar in der prallen Sonne. Um 9 Uhr wird die Tür aufgesperrt, und das pure Chaos bricht aus. Zwar scheint es eine Art inoffizieller Schlange zu geben, die wir nicht durchschauen, doch als plötzlich nur noch Studenten eingelassen werden, weiss keiner mehr wer vorher und nachher kam, und es regiert das Faustrecht. Ich glaube, dies ist eine der bisher übelsten Erfahrungen dieser Reise. Als sich Christian von einer vordrängelnden, keifenden Russin nicht abdrängen lassen will, drischt diese mit den Fäusten auf ihn ein. Mir klappt nur noch fassungslos die Kinnlade hinunter: Was für ein Albtraum!

Drei quälende Stunden später, kurz bevor die Botschaft ihre Audienz beendet, schaffen es auch wir als einzige Nicht-Usbeken in die heiligen Hallen der chinesischen Volksrepublik. Zwar gilt es auch hier nochmals eine Viertelstunde anzustehen, denn vor uns abgefertigt wird ein Reiseagentur-Vertreter, der geschätzte 200 Pässe in den Händen hält. Kein Wunder, dauert das Stunden!!! Komplett entkräftet und ohne Hoffnung treten wir endlich an den Schalter, händigen die Dokumente aus und halten den Atem an. Wenn jetzt irgendetwas bemängelt wird und wir unverrichteter Dinge abziehen müssen, geben wir auf, das haben wir uns draussen geschworen. Die Dame hinter dem Schalter wirft einen kritischen Blick. Sie zögert. Deutet auf unser Antragsformular und sagt: Veraltet! Tatsächlich haben wir das Antragsformular 2011, und alle anderen das 2012. Und jetzt? Der Security-Mann besorgt uns zwei neue Formulare, doch plötzlich hat die Dame Einsehen. Sie nimmt unsere Pässe, sämtliche Unterlagen und händigt uns ein kleines Zettelchen aus. Dort stehen irgendwelche kryptischen Nummern und die Dame sagt: „Friday“. Freitag? Ja… und… unsere Pässe? Die brauchen wir doch wieder! Nix Pässe, heisst es, und schon ist der nächste dran.

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Unser Plan, während der Visums-Wartezeit gemütlich nach Samarkand zu radeln und die Stadt in aller Ruhe zu besichtigen, ist damit kläglich gescheitert. Ohne gültigen Pass ist man in Usbekistan ein Sans Papier und kann, wie wir schnell bemerken, weder ein Zugticket kaufen, noch in ein Hotel einchecken, noch Euros in Dollar wechseln. Und so sitzen wir, glücklicherweise in sehr netter Gesellschaft der beiden österreichischen Radler Heidi und Markus, in unserem B&B fest und sind zum Nichtstun verdammt. Als wir uns beim Geldwechseln auf dem Schwarzmarkt auch noch naiv übers Ohr hauen lassen und die Kameratasche in einem Fotogeschäft liegen lassen, sinkt unsere Stimmung langsam, aber sicher auf den Nullpunkt. Eine Reise mit dem Fahrrad verspricht zwar unendliche Freiheit, doch in Tat und Wahrheit sind wir seit dem Iran Sklaven unserer Visa.

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Freitagnachmittag, 13 Uhr. Zweieinhalb Stunden vor Türöffnung treffen wir (nachdem wir es bereits am Mittwoch und Donnerstag erfolglos versucht hatten) erneut vor der chinesischen Botschaft ein. Eine weitsichtige Leidensgenossin hat diesmal clever eine Warteliste erstellt, auf der wir unsere Namen eintragen. Wir stehen an fünfter und sechster Stelle – nicht schlecht! Immerhin haben die Chinesen seit unserem ersten Besuch ein Sonnendach und ein paar Wartesessel montiert, und da sitzen wir nun die nächsten vier Stunden herum und sind nervös wie vor einer Prüfung.

Was wird uns da drinnen erwarten? Werden plötzlich noch mehr Unterlagen gefordert, und wir verbringen weitere Tage papierlos und wartend in unserem Hotel? Erhalten wir ein Visum, aber statt den gewünschten 60 Tagen vielleicht nur nutzlose 15? Oder werden wir gleich ganz abgeschmettert und können den Traum von China definitiv begraben…?

Mit Überschall durch O’zbekiston

Da stehen wir also, vor dem nüchternen Schalter der chinesischen Botschaft in Taschkent und schieben mit innerlich zittrigen Händen unseren Abholzettel hinüber. „Ni hao“, sagen wir überfreundlich (wie wenn das jetzt noch helfen würde, haha): Jetzt ist die Stunde der Wahrheit gekommen! „Ni hao“, antwortet die ansonsten ebenso nüchterne Chinesin auf der anderen Seite (Erfolgserlebnis! Sie hat uns verstanden!), nimmt den Zettel entgegen und sucht unsere Pässe. Da sind sie, nicht zu übersehen blinken sie in ihrem satten, patriotischen Rot aus all den grünen Usbekenpässen heraus. „80 Dollar“, sagt die Frau, und wir sind einmal mehr überrumpelt. Heisst das jetzt, wir haben tatsächlich ein 60-Tages-Visum in unserem Pass? Oder sind wir ein erstes Mal Opfer chinesischer Willkür und zahlen je 80 Dollar für ein lausiges 30-Tages-, oder schlimmer, ein 15-Tages-Visum? Da die Chinesin noch immer mit finsterem Blick unsere Pässe umklammert, haben wir keine Chance zu erfahren, für was wir sogleich bezahlen werden. Egal, sagen wir uns, und schieben ergeben zwei 100-Dollar-Scheine rüber. Nein nein, 80 Dollar für beide, meint die Chinesin, schiebt das Retourgeld und unsere Pässe zurück und wir fallen wie die Geier über unser wiedererlangtes Eigentum her…

Einen kleinen Schrei mitten in der Botschaft können wir nicht unterdrücken: Das gibt’s ja nicht! Anstandslos und ohne tückische Fangfragen haben wir ein 60-Tages-Visum für China in unseren Pässen. Halleluja!!

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Visa-Jubel beim üppigen usbekischen Frühstück

Das einzige Problem, das wir jetzt noch bzw. neu haben: Rechtzeitig an der chinesischen Grenze zu stehen. Denn bis zur spätestmöglichen Einreise am 21. September bleiben uns nur noch 29 Tage Zeit. Und das für 700 Kilometer in Usbekistan und 1300 Kilometer in Tadschikistan und Kirgistan.

Noch am selben Abend besteigen wir deshalb den Nachtzug nach Samarkand. Wie viel Blut, Schweiss und Hartnäckigkeit es kostet, in einem usbekischen Bahnhof ohne Russischkenntnisse Zugtickets zu erwerben, ersparen wir euch an dieser Stelle. Die Ankunft morgens um vier Uhr, die 10 Kilometer Fahrt durch die nächtlichen Vororte und die heruntergeklappte Kinnlade, als wir mitten in der Nacht plötzlich vor den hell erleuchteten Moscheen Samarkands stehen, ist dafür umso unvergesslicher.

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Leider empfängt uns Samarkand mit keiner guten Nachricht: Da demnächst ein grosses „internationales“ Musikfestival stattfindet, an dem der Herr Präsident höchstpersönlich anwesend ist, ist Samarkand derzeit unter Totalrevision: Armeen von freiwilligen Hausfrauen schnipseln im Park an den Buchsbäumen, die Männer streichen Parkbänke und Dolendeckel. Und die Hauptattraktion Samarkands, das Registan, ist bis auf weiteres geschlossen. Na toll: Da schränzen wir extra zwei wertvolle Tage Tadschikistan von unserer Überschallfahrt nach China ab, um dieses unglaubliche kulturelle Erbe zu bestaunen, und dann ist es wegen ein paar probenden Trachtengruppen fürs Publikum geschlossen. Hah!

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Obwohl uns Samarkand noch steriler und lebloser vorkommt als Bukhara, lohnt sich unser Besuch dann doch. Zwei Tage und eine halbe Nacht haben wir, um mit unseren polnischen Radlerfreunden im gemütlichen Bahodir B&B ein, zwei Biere zu trinken und ein, zwei weitere mosaikbestückte Moscheen zu besichtigen.

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Unser Nachtzug nach Denau im Süden Usbekistans fährt um 2.30 Uhr morgens. Wir glauben, dass uns zu dieser Unzeit wenigstens das Durchleuchten unseres Gepäcks erspart bleibt, doch nichts da. Christian muss gar den Sack mit der Zeltausrüstung öffnen, da die Beamten in unseren Zeltstangen eine gefährliche Bombe orten. Zugfahren in Usbekistan ist ein Erlebnis. Da wir letztes Mal in der Holzklasse mit vier Betten gefahren sind, gönnen wir uns für die 12-stündige Fahrt eine VIP-Loge: Ein Abteil inklusive Flachbildschirm ganz für uns! Jeder Zugwaggon wird von einem separaten Zugbegleiter betreut, der um die korrekte Verteilung der Bettwäsche besorgt ist. Vermutlich gibt es in Usbekistan genauso viele Zugbegleiter wie Polizisten – und das ist eine Menge. In Turkmenistan haben wir die massive Polizeipräsenz ja erwartet. Dass aber auch in Usbekistan an jeder Ecke drei Polizisten stehen, bestätigt unseren Verdacht, dass hier unter der Oberfläche ein überaus repressiver Polizeistaat wacht.

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Denau, die letzte grosse Stadt vor der tadschikischen Grenze, empfängt uns nachmittags um zwei Uhr mit drückender Hitze. Im Dorflädeli kaufen wir deshalb erst mal den gesamten Wasservorrat auf und werden so unsere letzten usbekischen Som los.

Das Gelände ist flach, doch die 40 Kilometer bei weit über 40 Grad sind trotzdem kein Spass. Am späteren Nachmittag erreichen wir endlich die Grenze. Wie wir von anderen Reisenden gehört haben, soll die Warteschlage ewig lang und die Bürokratie zermürbend sein. Eines der Übel des Reisens in Usbekistan (neben dem, dass man mit einer Usbekistanreise gleich auch den Durchfall mitbucht) sind die leidigen Registrierungen. Musste man früher noch für jede Nacht einen Hotelnachweis erbringen können, heisst es heute, dass eine Hotelbestätigung alle 72 Stunden genügt. Das bedeutet, dass man hierzulande zum pingeligen Märklisammler wird und von jedem Hotel und jedem Nachtzug den Nachweis mit sich herumträgt. Wer nicht genügend Registrierungen vorweisen kann, zahle bei der Ausreise hohe Bussen, hört man.

Am usbekischen Ausreiseschalter werden wir freundlich begrüsst. Einmal mehr fühlen wir uns eher als Entertainer denn als Bittsteller, und als wir alle Fragen nach dem Woher und Wohin beantwortet und den Gesamtstand unseres Kilometerzählers (6441 Km) gezeigt haben, werden wir freundlich durchgewinkt. Unsere schön gesammelten Registrierungen will man gar nicht erst sehen. Jäää, wars das? Denkste! Im nächsten Gebäude werden wir von einem finsteren Grenzbeamten empfangen. Als wir unsere vollbepackten Räder nicht innert Sekunden die Treppenstufen hochgetragen haben, pfeift er uns schon ärgerlich nach. Das kann ja heiter werden!

Es wird uns ein Formular ausgehändigt, auf dem wir wie bei unserer Einreise unser sämtliches Hab und Gut eintragen müssen. Dass wir jetzt ein Kameraobjektiv und ein paar Karamelbonbons weniger haben, interessiert die Behörden weniger. Dass wir aber noch einige Dollars aus dem Bankomaten gezogen haben und nun mit MEHR Geld ausreisen als wir eingereist sind, ist höchst illegal. Gewiefte Schmuggler wie wir sind, haben wir einen Teil des Bargeldes deshalb in unserer Wäsche versteckt und bibbern ordentlich, als wir den Scanner entdecken. Nicht schon wieder! Oh doch. Wir dürfen alle Taschen abnehmen und durchleuchten lassen. Zum Glück ist die usbekische Aufmerksamkeitsspanne relativ gering und der barsche Herr verliert ab Tasche 9 von 12 komplett das Interesse. Nicht allerdings ohne uns vorher noch nach unseren Medikamenten zu fragen: „Do you have any narcotics?“ Äh… öh… haben wir sowas dabei? „Ach was, bloss ein bisschen Aspirin!“ wiegeln wir ab und fragen uns, was zum Geier das alles soll. Wir wollen doch bloss ausreisen. Und zwar mit Überschall!

Ach Duschanbe!

Als Langzeitreisender kriegt man irgendwann das Gefühl, dass die Botschaften und Konsulate ziemlich treffend ihre Länder repräsentieren. Wir erinnern uns: Das Erlangen des tadschikischen Visums inklusive des begehrten blauen Stempels für die autonome Region Gorno-Badakhshan war im fernen Istanbul ein eher angenehmes Unternehmen, inklusive freundlichem Smalltalk mit dem Herrn Sekretär. Genauso willkommen fühlen wir uns, als wir ins Land einreisen: Kein stundenlanges Warten, keine seitenlange Formulare, kein Durchsuchen all unserer Habseligkeiten. Wir werden registriert, die Zöllner wünschen uns eine gute Fahrt und schon sind wir drin in diesem Land mit den unermesslich hohen Bergen, dem „Dach der Welt“. Vorerst allerdings ist es jedoch genauso glühend heiss wie zuvor in Usbekistan. Wir gönnen uns gleich nach der Grenze erst mal ein kühles Cola. Ein paar türkische Truckerfahrer sind auch da. Und da ich immer noch eine Handvoll iranische Rial im Portemonnaie habe, spreche ich sie an in der Absicht, ihnen das Geld zu schenken – sie werden ja bald wieder durch Iran zurück in die Türkei fahren. Eine kleine Geste für die unbeschreibliche Gastfreundschaft, die wir in ihrem Land erleben durften. Doch nichts da: Der Chauffeur zählt die Noten und kommt auf rund vier Dollar, worauf er einen 5-Dollar-Schein hervorkramt und mir hinstreckt. Nein nein, so war das nicht gemeint! Ich habe keine Chance, nicht mal einen Dollar Rückgeld nimmt er an. Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass wir diese türkische Liebenswürdigkeit erleben dürfen, selbst weit ausserhalb des Landes…

Die Sonne neigt sich bereits dem Horizont zu und angesichts der anbrechenden Dunkelheit suchen wir uns schon bald ein verstecktes Plätzchen für unser Zelt. Vor uns ragen Dutzende von Kaminen in die Höhe – wir befinden uns beim riesigen Aluminiumwerk des Landes, das 46 Prozent des tadschikischen Stroms konsumiert und 50 Prozent der Exporterlöse ausmacht. Zelten mit Aussicht! Als wir just auf einen Feldweg einbiegen wollen, kommt Herr Bauer samt Familie mit seiner Klapperkiste vom Felde gefahren. Wir denken, ups, gibts jetzt Schelte? Im Gegenteil: Das Fenster wird heruntergekurbelt und man schenkt uns eine Tüte voller frischer Tomaten. Mmmmmh!

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Tags darauf fahren wir trotz übler Schotterstrecke schon gegen Mittag in der tadschikischen Hauptstadt Dushanbe ein. Leicht befremdet nehmen wir zur Kenntnis, dass hier noch mehr Polizisten herumstehen als in Usbekistan! Wir sind jedoch nicht hier zum Besichtigen von militärischen Streitkräften oder Sehenswürdigkeiten (wir wüssten auch gar nicht, welche), sondern um unsere Vorräte für die kommenden harten Tage aufzustocken. Denn nun ist fertig mit Wohlfühlprogramm, die nächste grössere Stadt Khorog liegt schon mitten in der Pamir-Region und der Weg dahin wird im wahrsten Sinne des Wortes steinig. Also füllen wir im Supermarkt einen Einkaufswagen mit Nudelsuppe, Pasta, Bouillon, Kartoffelstock, Haferflocken, Cola und vielem mehr…

P1070566_1Dann gehts los. Raus aus der Stadt auf feinstem Asphalt zuerst nach Osten und schon bald in den Süden. Man hört, der Präsident habe seine Privatresidenz in Danghara, wo wir vorbeifahren werden. Ehrensache, dass bis dahin die Strasse in piekfeinem Zustand ist. Man munkelt gar, es sei die beste Strasse des Landes. Sogar ein brandneuer Tunnel wurde eben gebaut, der uns viele mühsame Höhenmeter erspart hätte, wenn er denn schon offen gewesen wäre. Bei einer Einladung zum Tee in einem Teehaus am Strassenrand hören wir Stunden später, dass der Tunnel wenige Tage darauf vom Präsidenten persönlich feierlich dem Verkehr übergeben werden sollte. Am südlichen Tunnelportal stehen Busse, Fussgänger und Polizisten spazieren herum: Ist heute Tag der offenen Tunneltür? Als wir die Kamera zücken, beweist der Ordnungshüter wenig Humor und weist uns ab. Genauso wenig Humor hat offenbar auch der Herr Präsident, wie die Geschichte mit dem YouTube-Filmchen zeigt. Das Staatsoberhaupt war über die Veröffentlichung seiner Tanzkünste not amused und liess YouTube kurzerhand sperren. Tunnel hin oder her, immerhin kommen wir bei der Abfahrt in den Genuss der ebenso taufrischen Zufahrtsstrasse und die Kilometer runter zum tiefblauen Vakhsh fliegen nur so dahin.

Wenig später ist es vorbei mit raschem Vorankommen. Wir lernen die Schotterpisten Tadschikistans kennen! Kurz vor dem Shar-Shar-Pass ist Schluss mit Teer und wir kämpfen uns bei über 40 Grad auf prekärer Piste Steigungen von 10% den Berg hoch. Wir hangeln uns von Schattenplatz zu Schattenplatz, denn wir wissen: Hier muss irgendwann ein Tunnel kommen! Aber die Strasse windet sich weiter hoch ohne Aussicht auf Besserung. Ein paar tadschikische Lastwagenfahrer sprechen uns bei einer Not-Pause Mut zu: In zwei Kilometern sei es geschafft! Und tatsächlich, nach viel weiterem Schweiss und Jonglierarbeit erscheint der Tunnel. Praktischerweise steht dort gerade ein Staubpistenbewässerungs-LKW, der Wasser tankt. Da das Rohr leckt, stellen wir uns überglücklich unter die unerwartete, willkommene Dusche. Dann verschluckt uns der Berg, nur um uns auf der anderen Seite mit einem weiteren kräftigen Anstieg zu beglücken. Entschädigt werden wir von atemberaubenden Ausblicken auf das Norak-Reservoir im Abendlicht. Eine ausgezeichnete Stelle zum Campieren mit über 1400 Höhenmetern in den Beinen! Bei Sternenlicht hauen wir eine herzhafte Portion Pasta rein, unser Kalorienbedarf steigt jetzt wieder massiv an.

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Die Kühle der Berge hält leider nicht lange an, wir müssen wieder hinunter in die Niederungen, bevor es dann wirklich ins Gebirge geht. Zwar kommen wir wieder schneller voran, aber die bleierne Hitze in der von Baumwollplantagen geprägten Ebene macht uns schwer zu schaffen. Bei extrem trockenen 49 Grad fühlt es sich an wie in einem gigantischen Dörrofen und Yvonnes Kreislauf rebelliert erneut. Parkiert auf der Zeltplane lassen wir unter einem Baum die ärgsten Temperaturen vorbeiziehen und schwitzen uns am frühen Abend noch bis in die nächstgrössere Stadt Kulob durch, wo uns nichts als ein überteuertes Hotel erwartet. Wenigstens gibts eine Dusche! Wir machen uns schon am Abend abfahrbereit für einen weiteren Start bei Sonnenaufgang, denn wir wissen: Morgen erwarten uns ein weiterer happiger Pass und eine vermutlich noch üblere Piste als zuvor. Kurz nach 6 Uhr wecken wir am Stadtausgang die schlafenden Tankwarte: Einmal eine Petflasche Benzin, bitte! Die beiden reiben sich die Augen: Was zum Henker wollen diese Touristen mit Benzin auf einem Fahrrad?! Egal, wir bezahlen und fahren los. Der Anstieg sieht beschaulich aus, auf einer breiten Schwemmebene windet sich die Strasse in weiten Kehren den Berg hoch. Unser Velocomputer sagt aber etwas anderes: Zwischen 5 und 8 Prozent beträgt die Steigung die meiste Zeit, und schon bald schwitzen wir wieder ganze Bäche.

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Angst vor dem Verhungern oder Verdursten brauchen wir an diesem Tag nicht zu haben: Die Tadschiken zeigen sich extrem gastfreundlich. Während wir uns den Berg hinaufquälen, erhalten wir so viele Lebensmittel geschenkt, dass wir Angebote sogar ablehnen müssen, weil unsere Taschen schon prallvoll mit Spenden sind. Eine kleine Auswahl: 2 Melonen, ein Sack voll Äpfel von den Polizisten eines Kontrollpostens, 2 Granatäpfel, 2 Flaschen Wasser und Bonbons von einem deutschen Paar und eine ganze Tüte warme, duftende Teigtaschen! Die Geschichte dazu ist einfach wunderbar: Wir sitzen am Strassenrand im Geröll und genehmigen uns eine kleine Erfrischung, da fährt ein Mercedes vorbei, die Insassen winken uns freundlich zu und wir ebenso freundlich zurück. Dann: Bremsmanöver, Rückwärtsgang und schon steigt einer von fünf Business Men in Anzug und Krawatte aus, überreicht uns 10 Teigtaschen und wünscht uns gute Fahrt. Wir können uns kaum bedanken, da rauschen sie schon wieder davon. Wir zehren den ganzen Tag an diesen Köstlichkeiten, sooo lieb!

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Nach einem happigen Aufstieg und dank Schotterpiste genauso happigen Abstieg nähern wir uns einem mit Spannung erwarteten Zwischenziel: Wir stehen am Ufer des rauschenden Pandj, der Tadschikistan von Afghanistan trennt. Dass Afghanistan nur mehr ein paar Steinwürfe entfernt ist, ist am Anfang schon ein seltsames Gefühl. Viele Kilometer und Tage werden wir nun dem Grenzfluss aufwärts bis nach Khorog folgen. Die Szenerie ist atemberaubend: Links und rechts die schroffen Felswände, unten der tosende braune Strom und dazwischen unsere Holperpiste. Bei jeder erdenklichen topologischen Gelegenheit weichen die Brauntöne dem satten Grün von Bäumen und kleinen Feldern. Die Dörfer säumen den Fluss wie Perlen an einer Kette. Oft sitzen die Siedlungen aber auf den Schwemmkegeln von seitlich zufliessenden Bächen, was uns viele, viele Höhenmeter hinauf und hinab beschert. Bilanz eines Tages: In über acht Stunden reiner Fahrzeit haben wir gerade mal 66 Kilometer geschafft, das macht eine lächerliche Durchschnittsgeschwindigkeit von 8km/h! Dazu kommen fast 1500 Meter Höhenmeter rauf, leider aber auch 1200 wieder runter, womit wir der Hitze der tieferen Regionen immer noch nicht entkommen können. Das zehrt gewaltig an unseren Kräften. Nur auf zwei kurzen Abschnitten kommen uns fast Tränen der Freude, wo dank iranischer Unterstützung makelloser Teer verbaut wurde. Danke Iran, das war eine echte Wohltat!

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Aber was klagen wir über unsere Holperstrecke: Auf der anderen Seite schlängelt sich das afghanische Pendant dem Fluss entlang, und uns bleibt oftmals die Spucke weg, wenn wir sehen, auf welch beschwerlichem Weg sich die dortigen Dorfbewohner fortbewegen müssen. Abenteuerlich windet sich der schmale Pfad mal direkt am Flussbett, mal hoch über einen Felsvorsprung. Da ist manch ein Wanderweg in den Alpen ein reiner Spaziergang dagegen. Die Kinder sind oft stundenlang unterwegs zur Schule oder nach Hause und winken uns lachend zu, während sie schnellen Schrittes ihren Weg gehen. Und auch wenn Strom- und Telefonanschluss oftmals inexistent sind und aus unserer Warte jeglicher Luxus fehlt: Die Dorfbewohner haben Wasser, bauen Getreide und Gemüse an, halten Vieh und machen auf den ersten Blick einen recht zufriedenen Eindruck – zumindest scheinen sie in ihrer Abgeschiedenheit von den Kriegswirren des Landes verschont zu bleiben…

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Unser Tagesrhythmus pendelt sich ein: 04.30 Uhr Tagwacht, ausgiebiges Frühstück, Zeltabbau und vor Sonnenaufgang auf die Strasse. Bei jeder Quelle werden die Flaschen aufgefüllt und der Kopf mit Wasser übergossen. Zur Mittagszeit Nudelsuppe und Brot, im Verlauf des Nachmittags lange Pause an einem möglichst schattigen Plätzchen. Gegen Abend bis zum Einbruch der Dunkelheit Weiterfahrt. Suche eines versteckten Platzes für unser Zelt. Einrichten unserer Schlafstatt. Katzenwäsche und Kochen einer beachtlichen Portion Reis oder Teigwaren. Müde auf die Isomatte sinken und sofort einschlafen.

Nicht schlecht staunen wir an einem steilen Felsabschnitt, wo wir in der Ferne riesige Felsblöcke in die Tiefe stürzen sehen. Das kann ja nicht sein, da müssen wir durch? Zum Glück stellt es sich als Baustelle heraus, wo türkische Gastarbeiter die Strasse sichern. Der Verkehr ist kurzzeitig gesperrt und ein Bagger bricht weiter oben das Geröll auf, das mit Getöse über die Strasse ins Tal kullert. Staub und Sand wirbeln durch die Luft. Kurz darauf wird der Abschnitt wieder kurz zur Passage freigegeben, auf der anderen Seite heissen uns die Türken willkommen zu Tee und Früchten: Schon wieder die türkische Gastfreundlichkeit!

Acht Tage sind wir nun ohne Pause durchgefahren. Über 6000 Höhenmeter sind in unseren Beinen und 600 von rund 800 Kilometern bis zum Zwischenziel Khorog sind geschafft. Doch der Höllenritt fordert seinen Tribut. Am achten Tag seit der Wiederaufnahme unserer Velotätigkeit an der usbekischen Grenze ereilt uns ein Alarmzeichen: Schon frühmorgens fühlt sich Yvonne schwach und ihr ist schwindlig. Nicht zu spassen auf dieser Strasse, wo man oft am Rand des Abgrunds auf einem Sandstreifen balanciert! Wir stoppen sofort: An ein Weiterfahren ist nicht zu denken. Leider ist weit und breit kein Baum, kein Dorf, kein gar nichts. Ich spanne die Zeltplane über die beiden Fahrräder und Yvonne legt sich in den Schatten. Kein Auto, kein LKW, wir warten und warten, Stunden vergehen und die Verzweiflung wächst. Endlich kommt ein Truck, doch leider voll beladen. In 20 Minuten sollen weitere kommen, meint der Fahrer. Banges Warten, ab und zu kommt ein Auto vorbei, aber wer fährt hier schon mit leeren Plätzen durch die Gegend? Vollbeladen sind sie alle, die Minibusse und 4×4, die an uns vorbeibrausen – keine Chance für uns, mitzufahren. Doch endlich, in der Ferne tauchen vier weisse Trucks auf. Sie fahren leer nach China, um dort Textilien zu laden. Der nette, aber wortkarge Fahrer öffnet den Frachtraum, wir schmeissen unsere Taschen rein, die Velos drauf und schon sitzen wir erleichtert in der Fahrerkabine mit Ziel Khorog. Glück gehabt!

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Wer nun denkt, mit dem LKW sei die Anfahrt zum berüchtigten Pamir Highway ein Sonntagsspaziergang, der irrt gewaltig: Wir werden durchgeschüttelt wie selten zuvor. Mit jedem Kilometer wächst unser Respekt vor diesen furchtlosen Chauffeuren, die immer und immer wieder auf dieser waghalsigen Strecke ihre Trucks von Dushanbe nach Kashgar und wieder zurück steuern. Das Fahren erfordert höchste Konzentration, und die Gruppe macht alle 50 Kilometer Pause. Rund 200 kräftezehrende Kilometer auf dem Velo ersparen wir uns im LKW und erreichen Khorog kurz vor dem Eindunkeln. Nun locken ein Guesthouse, eine warme Dusche und ein indisches Restaurant, wo wir noch am selben Abend fürstlich speisen. Einfach herrlich!

Verzückung und Verzweiflung, beides haben wir die letzten Tage erlebt. Seit wir in der Schweiz vor fünf Monaten losgefahren sind, haben wir bei kleineren und grösseren Schwierigkeiten oft lauthals „Ach Duschanbe“ gerufen. Jetzt sind wir in Tadschikistan und sagen tatsächlich: Ach du Schande! 😉

Einmal Infusion, bitte!

Eines haben wir uns vor unserer Reise fest vorgenommen: Was auch immer passiert, ob ein Bein fehlt oder sonst etwas – wir gehen ganz sicher NIE in ein zentralasiatisches Spital! Dass es doch so weit kommen muss, ist ein Zeugnis des feinen Humors des Schicksals. 🙂

Ich hätte nie geglaubt, dass es möglich ist, dass der Körper aus mehr oder weniger heiterem Himmel aus Erschöpfung streikt. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich am Morgen unseres achten tadschikischen Radeltages mit extrem kräfteraubenden Etappen auf schlechten Pisten bei zermürbender Hitze schon am frühen Morgen verzweifelt zu Christian sage: „Hilfe, ich glaube, man kann aus Erschöpfung sterben!“

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Immer und immer wieder haben wir uns gesagt: Ach komm, lass uns diese Kilometer noch fahren – was gemacht ist, ist gemacht. Keine Pause haben wir uns gegönnt, weil die Deadline unseres Chinavisums wie ein dunkler Schatten über uns lauerte. Wohl ein grosser Fehler. Denn das Warnzeichen kam zu spät. Nur wenige hundert Meter später merke ich, wie sich in meinem Kopf alles dreht und wie die nackte Panik aufsteigt. Ich weiss, dass ich keinen Meter mehr fahren kann; der Kreislauf streikt und mir ist unglaublich schlecht. Ich liege im Staub unter der notdürftig aufgespannten Zeltplane und fühle mich unendlich hilflos. Ein Moment, den ich lange nicht vergessen werde.

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Als endlich ein LKW-Fahrer anhält und uns mitnimmt, fallen mir mindestens zwei Tonnen Steine vom Herzen. Dass es der Frau im lila Velo-T-Shirt wohl nicht wegen Magenproblemen schlecht geht, können wir in unserem holprigen Russisch nicht erklären, und aus lauter Mitgefühl drückt mir unser netter Truckfahrer zwei Tabletten in die Hand. Sofort schlucken und keine Widerrede, deutet er – er hat wohl Erfahrung! Naja, denke ich mir, wird wohl nicht schaden, und werfe das Zeugs ein.

Die nächsten drei Tage fühle ich mich gar nicht so schlecht. Zwar sind meine Muskeln leer und die Hände und Beine zittrig, doch ich esse wie ein Matrose und erhole mich super. Wir haben ein nettes Zimmer mit SAC-Hütten-Feeling in der Pamir Lodge, wo sich die Überlandreisenden treffen und Erfahrungen sowie neuste Informationen austauschen. Wie zum Beispiel, dass der nahe Grenzübergang nach Afghanistan wegen Cholera geschlossen sei, oder dass in Kirgistan am Yssykköl-See die Pest ausgebrochen ist. Ups! Am Morgen des vierten Ruhetags wollen wir deshalb weiterfahren: Der berüchtigte Pamir Highway wartet! Dessen grösste Herausforderung sei die Anfahrt; ab hier sollte die Strasse besser werden, erzählen sich die Radreisenden. Doch als der Wecker klingelt und wir still und noch müde ein Birchermüesli in uns reindrücken, steigt wieder Panik in mir hoch. Der Gedanke, erneut hilflos am Strassenrand zu stranden, jagt mir Schauer über den Rücken. Unmöglich, so weiterzufahren! Am nächsten Morgen das gleiche Spiel, doch ich reisse mich zusammen. Ich rede mir ein, dass dies alles nur psychisch bedingt sei, und wir starten deshalb einen Versuch. Zehn Kilometer später fühle mich bereits hundeelend. So bitter es ist, wir müssen zurück in unser Refugium, wo mindestens die Hälfte der Traveller mit Magenproblemen darniederligen. Mir geht es magentechnisch super, nur leide ich dafür unter mysteriösen Symptomen…

Die weiteren Tage gönne ich mir strikte Ruhe. Kein Wäschewaschen, kein Veloflicken oder Ausflüge zum Basar oder dem tollen indischen Restaurant mehr. Zusammen mit unseren Radlerkollegen Daniela & Christian aus Österreich sowie Ria & Oliver aus Deutschland verbringen wir dafür nette Abende bei selbstgekochten Curry-Kartoffeln mit Rüebli. Welcome to the Pamir diet!

Insgesamt neun Nächte werden wir in Khorog, der Provinzhauptstadt direkt an der afghanischen Grenze, verbringen – es ist unser längster Aufhenthalt an einem Ort. Und anstatt dass es mir wie den armen Magenpatienten von Tag zu Tag besser geht, gehts bergab. Mitten am Tag befällt mich der Schwindel, ich habe konstant einen Druck im Kopf und das Herz klopft wie wild. Höhenkrankheit auf 2000 Meter über Meer? Eisenmangel? Infektion als Folge des mysteriösen Mückenstichs vor einer Woche? Immer noch Erschöpfung? Unsere Selbstdiagnosen sind so mannigfaltig wie vermutlich falsch. Mit jedem Tag wächst unsere Ratlosigkeit und Verzweiflung. Wir sind je 600 Kilometer von den nächstgrösseren Städten entfernt: Wie kommen wir bloss je wieder von hier weg?!? Der nette Lodgebesitzer Saïd rät uns, einen Doktor zu konsultieren. Obwohl just in diesen Tagen der Naionalfeiertag der Tadschiken ist und alle frei haben (Murphy lässt grüssen), sei das lokale Spital geöffnet, und da gäbe es einen pakistanischen Arzt, der Englisch spreche…

Wir machen uns also auf die Suche und landen… in der Onkologie. Es ist die einzige Baracke im Umkreis von einem Kilometer, die aussieht wie ein Spital. Wir treten ein und finden uns in einem abgewetzten, schäbigen Flur wieder. Fluchtartig verlassen wir das Gebäude; hier will man sich auf keinen Fall behandeln lassen! Wo das richtige Spital sei, können uns die Krankenschwestern nicht erklären. Irgendwann landen wir am korrekten Ort: Vorne im Park sitzen Tadschiken in Pantoffeln rum und es fühlt sich an, als wäre man in einem Sanatorium oder im Garten einer psychiatrischen Klinik gelandet. Wir nehmen eine zufällig gewählte Seitentür, denn so etwas wie einen Empfang oder Haupteingang gibt es nicht. Die Krankenschwestern sind überfordert als wir „Doctor, doctor“ sagen und noch etwas von „Angleiski“ und „Pakistani“. Sie winken uns mitzukommen, denn irgendwo sitzt eine Patientin, die Englisch kann. Als wir einen Blick in das Spitalzimmer erhaschen, haut es mich hindersi fast wieder raus: Hier sieht es schäbiger aus als in unserer Backpackerabsteige!

Wir brechen das Experiment ab und gehen nach Hause. Doch auch am nächsten Tag befallen mich seltsame Schwindelanfälle, ich schnappe nach Luft und mein Herz rast. Die Entscheidung fällt ziemlich rasch, alles eine Frage des Leidensdrucks, haha: Zurück ins Spital! Die netten tadschikischen Krankenschwestern sind auf dem Diagnosetisch gerade fürstlich am speisen und laden uns ein, dazuzusitzen. Wir lehnen dankend ab, wir haben gerade andere Probleme! Eilig wird weggeräumt und natürlich spricht kein Schwein Englisch. Der pakistanische Arzt ist eine Fata Morgana, und so wird mit Händen und Füssen gefragt, was mir denn fehle. Ich male sturme Kreisli in die Luft und die Dame nickt eifrig. Sie holt ein Bluckdruckmessgerät heraus und keine Sekunden später schaut sie wissend auf: Aha! Ein zu hoher Blutdruck! Ich muss lachen. Erstens bin ich noch ausser Atem vom Laufen und zweitens bin ich schon in der Schweiz nervös wie ein Pferd, wenn ich einen weissen Kittel sehe. Man addiere dazu den Faktor „zentralasiatisches Spital“ – kein Wunder habe ich einen Blutdruck von 150/90.

Da wir uns nicht einsichtig zeigen, wird der Arzt auf Pikett gerufen. Es ist ein gemütlicher zentralasiatischer Opa (in der Schweiz wäre er garantiert Pfeifenraucher) und er lässt sich von der einzigen englischsprechenden Apothekenmitarbeiterin den Sachverhalt übersetzen. Herr Doktor nimmt – oh Überraschung – das Blutdruckmessgerät zur Hand und misst nochmals. Keine Sekunden später nickt auch er wissend: Ein zu hoher Blutdruck, ganz klar! Das Wetter und die Höhe seien Schuld. Da müssen wir sofort eine Infusion machen, übersetzt uns die Apothekerin. Ich gurgle hysterisch: Infusion!??? Nur über meine Leiche!

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Obwohl dem Herr Doktor Widerspruch einer Patientin gar nicht gefällt, insisitieren wir auf einer anderen Ursache und fragen nach einem Bluttest. Herr Doktor rollt die Augen und schickt uns ins Diagnosecenter. Als ich einige Minuten später auf einem Bürostuhl sitze und die Dame die Nadel in meinen Arm stechen will, bin ich nahe einer Ohnmacht. Da sitze ich nun, genau da, wo ich nie landen wollte, in einem zentralasiatischen Spital! Nachdem mir Christian versichert, dass die Nadel neu und steril ist und die Dame gar das Prinzip der Desinfektion kennt, schliesse ich die Augen. Ein Stich in meinem Arm, aber oh làlà, Fehlschuss. Beim zweiten Stich ist die Ader gefunden, und ich lebe noch.

Mit dem Resultat der Untersuchung in den Klauen stapfen wir zurück zum Herr Doktor, der eiligst herbeigerufen wird. Für ihn ist der Fall klar: Alles normal! Eben doch der Bluthochdruck, meint er, und hebt warnend den Finger: Auf keinen Fall in diesem Zustand ins auf 3600 m.ü.M. gelegene Murghab fahren. Schnell ist ein Fresszettel gefunden, auf dem mir zwei Medikamente verschrieben werden. Was das denn sei, frage ich als aufgeklärte Patientin. Bluckdrucksenkende Pillen und etwas zur Beruhigung. Macht der Mann Scherze? Da kämpfe ich mit meinem Kreislauf und der Herr verschreibt mir Baldriantabletten…?

Als wir bezahlen wollen, trauen wir unseren Augen kaum: Der Bluttest macht Franken 2, die Medikamente 30 Rappen und der Arzt will partout nichts annehmen. Für diesen Betrag hätte bei uns die Arztgehilfin nicht einmal kurz eingeatmet!

Der Schock eines zentralasiatischen Spitalbesuchs war offenbar heilsam. Und vielleicht war Väterchen Arzt doch weiser, als wir glaubten. Denn mit einer Baldriantablette intus brechen wir an unserem zehnten Khorog-Tag auf, genau da hin, wo wir nicht hin sollten: Über einen Pass von 4300 Metern ins 300 Kilometer entfernte Murghab auf dem Pamir-Plateau, dem dem „Dach der Welt“…