Letzter Mai-Tag 2013, nach über einem Monat verlassen wir heute das Land der antiken Götter mit seinen einsamen Buchten, malerischen Fischerdörfern, Ouzo, Retsina, Moussaka, Sirtaki… Ab Alexandroupoli haben wir einen herrlichen Rückenwind, der uns fast in die Türkei trägt. Die letzten Kilometer dürfen wir nochmals auf der Autobahn zurücklegen – es gibt hier schlicht keine andere Strasse bis zur Grenze. Obwohl praktisch neu, ist eine der Spuren bereits wieder gesperrt: Der oberste Teerbelag löst sich und es tun sich hässliche Löcher auf. Wer weiss, wie lange die Griechen noch Geld zur Reparatur haben und ob sich das lohnt. Wir sehen auf diesen gut 8 Kilometern Strecke auf jeden Fall so gut wie kein Auto.
Die Ausreise aus Griechenland ist innert Sekunden erledigt, wir ergötzen uns anschliessend am riesigen, modernen Duty-Free-Tempel, wo es die Toblerone im Kilopack gibt. Ein Heimweh-Türke mit Aargauer Nummernschild wünscht uns Glück für die weitere Route, wir schwingen uns auf die Sättel und legen die letzten Meter im Niemandsland zurück. Die Strasse wird kurzzeitig zur Schotterpiste, ein Vorgeschmack auf den kommenden Strassenzustand? Dann nähern wir uns dem Fluss Evros, der die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei markiert. Gut gelaunt fahren wir auf die Brückenmitte zu. Hinter uns, also in Griechenland, ist das Geländer adrett blau gestrichen. Vor uns, schon in der Türkei, erstrahlt das Geländer rot. Dazwischen ein Marmorblock mit einer Inschrift, etwas davon abgesetzt auf jeder Seite ein Checkpoint mit bewaffneten Soldaten beider Staaten. Natürlich darf die Fahne nicht fehlen, gleich zwei Stück pro Land ragen in den Himmel. Keck fragen wir den Griechen, ob wir denn ein Foto knipsen könnten? Skeptische Ratlosigkeit, mit etwas Unbehagen gibt er uns jedoch sein Einverständnis, aber bitte vorwärtsmachen! Allein, der Grieche hat die Rechnung ohne den Türken gemacht. Dieser beginnt auf der anderen Seite mit den Armen zu rudern, so geht das doch nicht! Was nun? Es folgt der Slapstik-Moment des Tages: Der griechische Soldat marschiert auf die Brückenmitte zu und hält millimetergenau an der Trennlinie, sein türkischer Kollege tut es ihm gleich. Nun stehen sie da, die Nasenspitzen berühren sich fast, und konferieren, wie mit unserem Anliegen fortzufahren sei. Wir haben Glück, eine Aufnahme wird uns erlaubt. Hier ist es, das Bild mit Seltenheitswert, direkt aus der Hochsicherheitszone Evros:
Ennet dem Fluss dann – so dachten wir – wartet der Spiessrutenlauf: Zollformalitäten, Warenkontrolle und so weiter. Andere Veloreisende sind hier stundenlang gestrandet. Wir warten also brav hinter dem einzigen Auto, das gerade abgefertigt wird, da kommt ein Türke in Zivil und bedeutet uns, wir sollen einfach vorbeifahren. Wir lassen uns nicht zweimal bitten und düsen davon, durch eine stacheldrahtbewehrte Warenumschlagszone zum nächsten Checkpoint. Der Zöllner schaut gelangweilt in unsere Pässe, drückt rasch einen Stempel rein und wünscht uns eine gute Fahrt. Wir können es fast nicht glauben: Rekordabfertigung in weniger als einer Viertelstunde, Foto inklusive. Teschekürler, vielen Dank!
Einige Kilometer später packt uns ein kleines Hüngerchen, da kommt ein Schattenplatz in Form einer Bushaltestelle (Betonsockel mit einem Wellblechdach) gerade recht. Wir verzehren unsere letzten griechischen Leckereien und wollen uns gerade auf den Weg machen, als zwei Buben auf uns zukommen. Sie deuten auf unsere Wasserflaschen, die sie gerne haben möchten. Freundlich, aber bestimmt kommen wir dem Wunsch nicht nach, schliesslich sind wir hier ja nicht in der nordafrikanischen Wüste und es muss niemand verdursten. Wir fahren los und ich staune nicht schlecht, als mir nach dieser kurzen Begegnung bereits die ersten Steine nachgeworfen werden! Wir sind perplex: Sogar in Marokko ist uns das nur ein Mal passiert… Hoffen wir mal, dass das kein schlechtes Omen ist.
Auch an diesem Tag ist es drückend heiss und wir kommen nur dank dem weiterhin kräftigen Rückenwind so gut voran. Die Quizfrage lautet also: Möglichst weit fahren und den Wind ausnützen (morgen kann er schon wieder in die andere Richtung blasen), oder frühzeitig stoppen und sich an Land und Leute herantasten? Wir entscheiden uns für letzteres und fahren von der Schnellstrasse ab nach Keşan, der ersten grösseren Stadt nach der Grenze. Die Suche einer Unterkunft geht nun etwas anders vonstatten: Zuerst wird das Zimmer präsentiert, anschliessend über den Preis verhandelt. Englisch kann hier kaum einer und das Verhandeln ist Sache des Mannes. Also los! Hotel Nummer 1, recht teuer und kein Internet. Nummer 2, etwas gehobener, aber zu teuer. Nummer 3, eine Bruchbude, die in einem Gruselfilm als Kulisse dienen könnte. Nummer 4, uiuiui, Luxusschuppen, ich bleibe gleich draussen. Also zurück zu Yvonne, die immer noch vor Nummer 2 steht. Die zahlreichen Portiers stehen ebenfalls noch da und bedeuten mir, mitzukommen. Wird jetzt der erstgenannte Preis nachverhandelt? Es geht erneut zur Zimmerpräsentation, diesmal fünf Stöcke hoch, wo die Mehrbettzimmer mit Gemeinschaftsdusche untergebracht sind. Und tatsächlich: Hier treffen sich unsere Preisvorstellungen. Wir sind uns einig und schwuppdiwupp, werden unsere unzähligen Taschen von allerhand Helfern ins Zimmer hochgetragen. Wow! Erst jetzt wird uns bewusst, wie gut und günstig wir in Griechenland offenbar jeweils untergekommen sind. Denn zu unserem Erstaunen sind die Hotels hier teurer als im Nachbarland, vermutlich bedingt durch das kleinere Angebot.
Nun haben wir Zeit für die erste Begegnung mit einer türkischen Stadt. Besuchen amüsiert den Discounter, der sich in der Moschee im Erdgeschoss eingemietet hat (gibts bei uns irgendwo einen Aldi oder Lidl in einer Kirche?). Schlendern durch die Gassen mit den vielen Händlern vor ihren Auslagen. Und trinken im Stadtpark… nein, noch keinen Çay, sondern noch ganz griechisch ein Frappé, bevor wir uns frühzeitig in die Federn machen.
Tags darauf gehts früh los. Das Frühstück wird uns extra früh um 6:40 Uhr serviert (wir haben gelernt: alles ist Verhandlungssache). Zu gekochten Eiern, Oliven und Käse flimmern zum ersten Mal Protestbilder aus Istanbul über die Bildschirme. Alle scheinen aufgeregt darüber zu debattieren, wir verstehen leider nur Bahnhof, sitzen dafür bereits um 7 Uhr auf den Rädern. Die Strasse verläuft praktisch schnurgerade durch die hügelige Landschaft, rauf und runter und wieder rauf… Am Mittag haben wir bereits unser nächstes Ziel Tekirdağ erreicht. Die Stadt ist grösser als die vorangehende, aber die Unterkünfte scheinen noch rarer. Also gleiches Spiel, ich mache mich zu Fuss auf den Weg und klappere ein paar Strassen ab. Bei der Rückkehr meiner Tour staune ich nicht schlecht: Da steht Yvonne umringt von türkischen Mädels, ein riesiges Tohuwabohu, Fragen hier und Gekicher dort!
Wie ich später erfahre, wurde Yvonne während meiner Abwesenheit von jungen Mädchen der gegenüberliegenden Schule angesprochen. War es das blonde Haar und die blauen Augen? Ganz aufgeregt und mit frisch gelernten Englischbrocken (die Englischlehrerin winkte uns vom Schulzimmer zu) wollten sie alles von ihr wissen, sich mit ihr auf Facebook befreunden und mit ihren Handys tausend Erinnerungsfotos schiessen. „Oh veri biutiful“ und „please never forget me!“ rufen sie Yvonne zum Abschied zu, bevor sie wieder in ihrer Schule verschwinden. Eine Mathematikprüfung ist angesagt.
Die hübsche Promenade am Meer lassen wir uns nicht entgehen, ebensowenig die traditionellen Holzhäuser in der Innenstadt. Ansonsten ist die Stadt für ihre Köfte-Lokale und den Anisschnaps bekannt – beides nicht gerade weit oben auf unserer Favoritenliste! Hier werden wir zum ersten Mal mit der aktuellen politischen Situation konfrontiert: Eine junge Studentin spricht uns an und erzählt uns, dass ihre Regierung Leute grundlos verhaften würde. Ob wir vom Gezi-Park gehört hätten? Sie bittet uns, die Botschaft der Protestierenden via Twitter zu verbreiten. Am Abend sehen wir dann auch hier eine (noch kleine) Gruppe Demonstranten. Diese Geschichte ist – leider – noch nicht zu Ende geschrieben…
Eine weitere Etappe bringt uns schon ganz in die Nähe Istanbuls. Ausnahmsweise regnet es und wir sitzen den Morgen erst mal aus, kühler ist es nun ja endlich. Irgendwann haben wir aber genug vom rumsitzen und fahren los. Wir waren durch andere Blogs ja auf den Moment vorbereitet, aber als es bei uns dann so weit ist, ist es noch schöner als gedacht: Wir stehen plötzlich vor unserem ersten MM-Migrosmarkt und freuen uns über das sofort aufkommende Heimatgefühl. Alles wie in echt, nur eben Türkisch-Migros! Natürlich können wir einem kleinen Rundgang nicht widerstehen und prüfen anerkennend das Sortiment – sogar die M-Sélection-Linie gibt es hier! Wieder auf der Strasse, bekommt uns die Kombination von Nässe und den vielen Glassplittern nicht. Einer bohrt sich in mein Vorderrad, ein glatter Durchschlag! Zum Glück hat die Strasse hier einen breiten Pannenstreifen, denn der Verkehr ist nun schon wesentlich dichter, je mehr wir uns Istanbul nähern. Kurz vor dem Tagesziel entdecken wir vor einer Bäckerei einen italienischen Velofahrerkollegen, der unser spärliches Italienisch zu schätzen weiss, mit uns ein langes, lustiges Schwätzchen hält und uns das erste türkische Delight sponsert. Er will heute noch nach Istanbul reinfahren – Respekt! Vor allem, da uns der Bäcker und des Bäckers Kollegen eindringlich vor dem schlimmen Strassenverkehr warnen.
Silivri ist unsere letzte Station vor Istanbul und die Hotelsuche wird offensichtlich immer schwieriger. Hier wird einem allerhand geboten, jedoch im negativen Sinn. Bei der ersten Absteige fürchte ich mich schon bei der Zimmerbesichtigung, dass ich mir Flöhe oder Wanzen einfangen würde. Und das zu einem absurden Preis! Wir haben aber Glück uns finden zufällig am Hafen ein Clubrestaurant (des Lehrerverbands, mutmassen wir), wo auch einige Zimmer vermietet werden. Im Dach des Hauses quartieren wir uns im klitzekleinen Zimmerchen ein, das dafür eine Terrasse mit Meerblick bietet. Apropos Meer: Auch hier hat man sich – wohl mangels anderer Sehenswürdigkeiten – alle Mühe gegeben und eine prächtige Strandpromenade gebaut. Nur leider scheint die Stadt über keine Kläranlage zu verfügen. Schon bei der Einfahrt über die Brücke haut es uns fast vom Velo, eine einzige stinkende Kloake ergiesst sich hier ins Marmarameer. Bei Wikipedia lesen wir, die Küste um Silivri sei mit Istanbuler Wochenendhäusern bebaut. Viel Spass beim Baden!
Die Tatsache, dass die Schnellstrasse nach Istanbul hier keinerlei Seitenstreifen mehr hat, sowie der massive Verkehr veranlassen uns nächstentags, ausnahmsweise nicht in die Pedalen zu treten, sondern gemütlich im Bus Platz zu nehmen. Kaum auf dem Bushof angekommen und etwas ratlos ins hektische Treiben geschaut, werden wir gleich zu einem schon fast abfahrenden Bus gewiesen. Nach Istanbul? Ja, heisst es unisono! Wohin denn genau? Das bleibt leider ein Geheimnis, da sich unser Türkisch- und deren Englischvokabular nur an einer sehr kleinen Stelle überschneiden. Item, alle Taschen und die Velos in den Bauch des Busses verstaut, und Sekunden später sind wir unterwegs. Istanbul, wir kommen!
Der Blick aus dem Fenster bestätigt uns in unserer Entscheidung, die letzten 70 Kilometer vor Istanbul auf den Bus umgestiegen zu sein. Die pannenstreifenlose zweispurige Autostrasse mündet in ein drei- und vierspuriges Ungetüm, das sich immer dichter und gefährlicher Richtung Stadt wälzt. Wir sitzen währenddessen gemütlich und sicher in unserem weichen Sitz und kriegen einen heissen Kaffee serviert, was will man mehr!
Nach rund eineinhalb Stunden fahren wir in ein gewaltiges, mehrstöckiges Busterminal ein. Wir haben immer noch keinen blassen Schimmer, wo uns der Bus ausspucken wird. Nur soviel ist sicher: Irgendwo in den gesichtslosen Vororten der 14-Millionenstadt Istanbul. (Info für andere Velofahrer: Man landet im Otogar Bağlantı Yolu, 10 Kilometer ausserhalb des Zentrums). Eins, zwei, zack, zack sind unsere Taschen und Fahrräder ausgeladen. Unsere Taschenmontiertechnik ist inzwischen so ausgefeilt, dass wir die Dinger schneller montiert haben, als der Gepäckträger einatmen kann. Ein solcher kommt nämlich dahergerannt mit seinem Chäreli und ist ordeli enttäuscht, als wir ihm auf lupenreinem Türkisch (…) vermitteln, dass es hier nichts wegzuträgeren gibt. Er fragt zur Sicherheit zwar noch zwei Mal nach, aber da wir ungebrochen freundlich grinsen, gibt er auf und will dafür mit aufs Erinnerungsfoto. Diesen Gefallen tun wir ihm gern. Et voilà:
Dank gehörlosenfreundlichen Handzeichen und wildem Gefuchtel der Busterminal-Angestellten finden wir irgendwann auch mal den Ausgang aus dieser gigantischen Anlage und landen bei Ikea. Obwohl die eine oder andere Kleinigkeit ja immer noch ins Gepäck passt, entscheiden wir uns gegen einen Besuch und fahren dank Navigation auf Nebenstrassen durch Istanbul, unser Ziel: Der Taksim-Platz. Nach beschaulichen Quartierstrassen, Parkanlagen und einer Fahrt entlang des Bosporus gibt es zum Schluss nur noch ein Problem: Wir müssen über das Wasser! Zielstrebig, gemäss Anweisung unseres GPS, navigieren wir auf eine Brücke zu. Zwar erstaunt uns schon ein wenig, dass mitten drauf ein Restaurant sitzt und man uns galant zu einem gebratenen Hähnchen überreden will. Irgendwann bemerken wir dann aber den fatalen Irrtum: Es fehlt ein (entscheidendes) Element auf der Brücke und Weiterfahren wäre ein totaler Reinfall gewesen, im wahrsten Sinne des Wortes.
Wir schieben also unser Gefährt an zahllosen Fischern vorbei auf einer anderen Brücke über den türkischen Ärmelkanal und finden nach Stunden mit Hängen und Würgen (und vor allem Stossen) unser Apartment. Es befindet sich an einer ruhigen Wohnstrasse nur 500 Meter vom Taksimplatz entfernt. Nachdem wir uns häuslich eingerichtet haben, beschliessen wir, am Ort des Geschehens gleich selber einen Augenschein zu nehmen.
Was wir in den kommenden Stunden und Tagen auf dem Platz und in den Gassen sehen, hat nichts mit randalierenden Randgruppen oder auslandgesteuerten Zerstörungswütigen zu tun. Es sind hunderte, ja tausende ganz normale Türken wie du und ich, die ganz einfach ihre, Zitat, „selbstherrliche und diktatorische Regierung“ satt haben. Auf dem Platz herrscht friedliche Openair-Stimmung, und man sieht von sozialeifernden Komünisten bis hin zu ganzen Kindergärten alles. Jung und alt, klein und gross ist auf den Beinen, und es beeindruckt, mit welchem Humor, Elan und auch mit welcher Freude und welchem Gemeinschaftssinn die Bevölkerung ihren Unmut äussert. Auf Radio SRF3 haben wir unsere Eindrücke am 4. Juni in einer kurzen Telefonschaltung geschildert:
Zwar gibt es auch Schattenseiten wie die üblichen Sprayereien, demolierte Bankomaten, Autos und Geschäfte, die jedoch wohl mehrheitlich eine wütende Reaktion auf das äusserst repressive und brutale Vorgehen der Polizei sind. Doch wenn Abend für Abend um 21 Uhr die Lichter ausgehen und in jeder Wohnung und sogar in den Restaurants auf Pfannen getrommelt wird, um der Solidarität mit den Demonstranten Ausdruck zu verleihen, fährt einem schon eine kleine Gänsehaut über den Rücken. Man wünschte sich, auch bei uns würde am 1. Mai mal auf Kochtöpfe getrommelt, anstatt die fiesen Kapitalisten mit Vandalismus zu martern.
Im Gegensatz zu anderen Touristen steht uns in den nächsten Tagen weniger der Sinn nach Blauer Moschee oder Hagia Sophia, sondern nach Konsulaten, sinnlosen administrativen Hürden und viel Ärger (die Visageschichten folgen bald!). Neben der Beschaffung der Zutrittserlaubnis zu „weiteren Demokratien, denen wir im nahen Osten nachreisen“ (danke fürs Zitat, Andy ;-)), gibt es einigen Kleinkram zu erledigen. Eine unerwartete Schwierigkeit ist es, unseren Gummizug am Flaschenhalter zu ersetzen. Während wir bei uns ganz einfach zu Migros-Do-It gestiefelt wären und da mit Sicherheit etwas gümmelimässiges gefunden hätten (leider kein Do-It bei Türk-Migros), strecken wir das zu ersetzende Teil in diversen Lädeli dem Besitzer ins Gesicht, doch keiner will so etwas im Sortiment haben. Bis uns die geniale Idee kommt, einfach mal nach „Elastik“ zu fragen, schon kommt ein Strahlen aufs Gesicht. Aaah, Lastik! Evet, evet, ja, ja! Glücklich und zufrieden marschieren wir mit 10 Meter Elastikband aus dem Laden. Kostenpunkt: 1 Franken 50.
Eine etwas grössere Herausforderung ist es, unser wucherndes Kopfhaar angemessen zu stutzen. Christian, mutig wie er ist, stürzt sich als erster ins Gefecht und sucht sich einen Herrencoiffeur, bei dem man nicht schon von aussen sieht, dass man vornüber gebeugt die Haare waschen muss (ui, das sieht dann richtig schmerzhaft aus) und die Sache mit einer Kleinsense erledigt wird. Als er zurückkommt, trifft mich trotzdem fast der Schlag: Entweder als Akt der Gnade (Mann kaschiert doch gern die kahlen Stellen) oder aus purer Unfähigkeit wurde das oberste Haar um den Wirbel herum nicht gestutzt. Er sieht aus wie vom Stamme der Irokesen. Mangels angemessenem Gerät muss ich mich nun also mit der Sackmesserschere ans Nachschneiden machen. Geht ja gar nicht!
Von dieser einschneidenden Erfahrung geprägt, schiebe ich die Entscheidung „Haare bis China an den Bauchnabel wachsen lassen“ oder „Augen zu und sich verstümmeln lassen“ lange vor mich her. Am drittletzten Istanbultag ist es so weit. Ich sage mir: Entweder ich gehe zum Zahnarzt (schmerzhafter Zahn „Franz“ lässt grüssen) oder zum Kuaför. Beides tue ich mir nicht an.
Als ich dann auf dem Stühlchen sitze und auf meinen Maestro warte, bin ich nicht mehr so sicher, ob ich nicht doch in Richtung Flucht tendiere. Zu spät. Angehoppelt kommt Maestro, sein weinerlicher Gehilfe und eine kichernde Lehrtochter. Zum Glück habe ich vorher etwas recherchiert und gelesen, dass es in der Türkei komplett normal sei, dass mindestens drei Menschen gleichzeitig irgendwas am Haar werkeln. Da ich besonders mutig war und auch noch nach blonden Strähnen verlangte, habe ich alsbald Maestro und Gehilfe mit Chemie an meinen Haaren. Maestro, rechts, betupft nur den braunen Haaransatz, weinerlicher Gehilfe, links, bepflatscht die ganze Strähne mit Farbe. Anders als Zuhause, wo ich mich mit der Klatschpresse von der langwierigen Angelegenheit ablenke, bin ich hier voll dabei und bemerke die unterschiedliche Handhabe sofort. Ein klassicher Fall von: Die rechte Hand weiss nicht, was die linke tut! Da mein Maestro nur marginal Englisch kann („sori, onli tu levels of Inglish in skul!“) und der Gehilfe gar nicht (auch nicht weinerliches Englisch), lasse ich es, die beiden darauf hinzuweisen und stelle mir schon vor, wie schön es wird, wenn ich auf der einen Seite anders blond bin als auf der anderen. Ich habe mich aber sowieso auf das Schlimmste eingestellt, deshalb lässt mich das innerlich noch kühl.
Plötzlich geht alles ganz schnell. Ich spüre ein komisches Beissen in Augen und Nase, die Lehrtochter liegt dramatisch auf den Boden und wimmert und der weinerliche Gehilfe stürzt aus dem Zimmer und kommt mit einem Handtuch vor dem Mund zurück. Tränengasattacke! Nett wie er ist, bringt mir der weinerliche Gehilfe irgendwann auch ein Tuch. Es wird immer unerträglicher, wie es in Hals, Nase und Augen brennt. Nur mein Maestro macht – ganz Mann – ungerührt weiter, flucht auf die „faschistischen Polizisten“ und zieht Vergleiche zu hier nicht genannten schnauzbärtigen Schreckfiguren aus der deutschen Historie.
So schnell reagierten die Istanbuler Graffitikünstler: Die Frau in Rot, die von einem Polizisten mit Tränengas besprüht wird, wird zur Ikone des Widerstands.
Ich halte die Situation zwar nach wie vor für nicht so tragisch, doch draussen schreien die Demonstranten ohrenbetäubend, und dies ziemlich genau unterhalb unserer Fensterfront (natürlich sperrangelweit geöffnet). Die Gaswolke wird immer beissender, unsere Augen laufen rot an und man sieht fast nichts mehr. Plötzlich kommt der oberste Chef angeschwebt, ein türkischer Beau mit langem, braunem Haar und Rehaugen und sagt in seinem bestem Englisch: Kwik, kwik! Er schnappt sich das Chäreli von Maestro mit dem Bleichmittel und säuselt „kwik, kwik„. So quick wie es geht mit Alustreifen im Haar und Tüchli vor dem Mund hechle ich dem Beau nach in den oberen Stock, wo geschlossene Fenster und eine Klimaanlage für etwas erträglichere Luft sorgen. Oben versammelt ist das ganze Kuaför-Personal, von dem die Frauen ganz dramatisch vor sich hinwürgen und so aussehen, als würden sie leider demnächst dahinscheiden (wie man merkt, fand ich das doch etwas übertrieben). Es wird so dramatisch, dass die bekopftuchte Putzfrau sich in einem unbeobachteten Moment *zwack* mein Tränengas-Schutztuch schnappt und erleichtert durchs Tüchli keucht. Ich denke: Hah, hier ist der Kunde noch König, und grinse mundschutzlos in den Spiegel.
Irgendwann beruhigt sich die Szenerie soweit, dass mein Maestro mit dem Pinsel zu seinem Arbeitsplatz (Ich) zurückkehrt. Der weinerliche Gehilfe ist leider nicht mehr im Stande, ihm beizustehen, denn er ist beschäftigt, die Angelegenheit furchtbar zu finden. Also werkelt Maestro ab sofort alleine in meinem Haar. Das heisst, irgendwann wird dicklicher Gehilfe 2 herangerufen, man solle meine blonden Mèches föhnen. Nachdem er ewig keine Steckdose findet, lässt er als erste Amtshandlung seinen schweren Föhnaufsatz auf meine Schulter fallen. Wenig später fällt ihm dann der ganze Föhn aus der Hand. Und wer schon einmal heisses Alu angefasst hat, weiss: An der Kopfhaut oder am Ohr ist das kein Vergnügen. Dicklicher Gehilfe 2 weiss das offenbar nicht, also beisse ich die Zähne zusammen (habe ich sowieso schon, dank Tränengas) und denke: So viel Schusseligkeit auf einen Haufen, das glaubt man kaum.
Irgendwann kommt Maestro zurück, um das Werk seines Gehilfen zu betrachten. Offenbar wurde mein Ohr nicht genügend durchgeröstet, denn es wird nochmals kräftig Farbe nachgepinselt. Zum Glück ist die linke und rechte Hand jetzt am gleichen Mann, also wissen beide ungefähr, was die andere tut… Irgendwann werde ich dann erlöst und wieder in den unteren Stock geführt, wo einem immer noch der Atem stockt. Waschen. Gehilfe 3 spült ausführlich das Haar, und als ich denke, so viele Waschgänge kann es doch kaum geben, reibt er irgendeine Chemikalie in mein Haar und fängt an zu schrubben wie ein T-Shirt bei Handwäsche. „Was zum Geier…?“ denke ich, aber da ich nicht weiss, was Geier auf Türkisch heisst, lasse ich die Nachfrage. Als dann auch noch der oberste Chef heranschwebt und dem Gehilfen beim Haareschrubben kräftig mithilft, kann ich wenigstens sicher sein, dass dieses Prozedere in der Türkei offenbar normal ist.
Vermutlich, so mein naträglicher Erklärungsversuch, hatte der Gehilfe den Auftrag, die unterschiedliche Blondierung links und rechts auszubügeln. Denn als Maestro nach dem professionellen Schnitt mein Haar föhnt, bin ich komplett perplex: Alles piccobello. Es ist inzwischen abends um halb zehn und ich bin noch die einzige Kundin im Haus. Erleichtert begleiche ich meine Schulden und trete beglückt in die tränengasgeschwängerte Nacht. Wer hätte das gedacht! Nun bin ich bestens gewappnet für den Iran: Perfekt blondiert unters Kopftuch!
In Istanbul eskaliert die Protest-Situation zunehmend, und ihr könnt euch vorstellen, wie wir uns gefreut haben, endlich mal wieder etwas Luft ohne Tränengasgeschmack zu schnuppern (na gut, so schlimm wars dann auch wieder nicht :-)). Dennoch verlassen wir Europa mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit dieser neuen tektonischen Platte unter den Rädern kommen nun einige Länder ins Blickfeld, die vermutlich nicht gerade auf zwei Velofahrer aus der Schweiz gewartet haben.
Als wir am frühen Morgen im 50 Kilometer südlich gelegenen Yalova aus der Fähre steigen, empfängt uns der asiatische Kontinent mit Regen. Was man als normalsterblicher Tourist ja oft als Affront gegen seine verdiente Ferienerholung empfindet, ist für uns ein freudiges Ereignis. Ohne Murren montieren wir Regenjacke, Hosen, Handschuhe und Füsslinge und überqueren bei endlich angenehmer Reisetemperatur die erste asiatische Hügelkette. Auf Google Earth haben wir auf dem Weg per Zufall eine Thermalquelle gesichtet – zum Glück! Denn sonst wären wir mangels entzifferbarer Beschilderung ahnungslos vorbeigefahren. Das nennt man sein touristisches Highlight unterverkauft!
Tieftürkis mit lauschigen Picknickplätzen ladet das handwarme Nass zum Bade, doch bevor ich mich ins Bikini stürzen kann, entdecke ich am Beckenrand plötzlich die einzige badende Person. Es ist eine ältere Frau, und sie ist – oh Schock – in voller Burka-Montur inklusive Kopftuch. Wie eine Kröte sitzt sie unbeweglich im Wasser, nur der Kopf bzw. das Kopftuch ragt heraus. Fehlt noch, dass sie anfängt zu blubbern… Da ich keine Lust habe, mich der lokalen Schwimm-Mode anzupassen, verzichte ich dankend auf ein Bad, während der Mann der Reisegruppe in seinem knappen Badehöschen fröhlich im Kurwasser plantscht und sich mit dem Mann der Kröte auf Türkisch bestens unterhält.
Am Abend erreichen wir Iznik am lauschigen Izniker See, eine antike und byzantinische Stadt aus vorchristlicher Zeit. Die römischen und griechischen Sehenswürdigkeiten nehmen wir auf der Hotelsuche per Äxgüsi gleich mit. Später erzählt man uns, dass nicht viele Touristen den Weg hierher finden, angesichts dessen scheinen uns die Preise ziemlich saftig. Ein vorbeigehender Türke will uns deshalb zum Gratiscampen in den Stadtpark lotsen. Uns gelüstet aber nach ein bisschen Trockenheit und einer Dusche. Dies kaum mit Händen und Füssen mitgeteilt, gesellt sich ein zweiter Türke zu uns, telefoniert ein paar Minuten in der Stadt herum und schon haben wir für Fränkli 12.50 pro Person die geräumige Dachloge eines privaten Hostels im Sack, inklusive Deluxe-Terrasse. So läuft das hier!
Für den kommenden Tag droht die Wetterprognose mit heissen Temperaturen, wir starten deshalb so früh wie möglich und sind gegen Mittag bereits in der nächstgrösseren Stadt. Im Gegensatz zu meinem Reisepartner vermögen mich silbern glitzernde Moscheedächer noch immer zu einem Fotostopp hinreissen, doch just als ich den Auslöser drücke, stoppt neben mir ein Auto. Ein junger Türke fragt in perfekt britischem Akzent, wo wir denn herkämen? Er arbeitet als Banker in London und ist offenbar auf Besuch in der Heimat. Sofort werden uns Nüsse, Feigen und Früchte aus dem Autofenster gereicht, und als meine Hände voll sind, wird Christian herbeigepfiffen: Auch sein Velohelm wird gefüllt. Es folgen zwei Flaschen Wasser und viele wertvolle Tipps zur kommenden Route. Hätten wir nicht auf einem Hitze- und Teehalt bestanden, hätten uns die vier netten Herren sogar noch mit dem Auto zur Stadt hinaus eskortiert. Teşekkür ederim, ganz, ganz herzlichen Dank!
Als wir uns 2 Tees, 1 Gewitter und 1 Schwatz mit einem Deutsch-Türken später an den steilen Aufstieg Richtung Berge machen, rufen uns Strassenarbeiter „Çay, Çay“ zu, doch diese Einladung zum Tee lassen wir sausen. Wo käme man da auch hin? 🙂 Die Steigung wird immer fieser, die Regenwolken haben sich längst verzogen und es wird bald schon wieder ziemlich drückend. Ich halte am Strassenrand für eine kurze Verschnaufpause, und schon stoppt neben mir ein Auto mit vier jungen Türken (mein langsam aufkeimender Verdacht: weniger als vier Personen sind in türkischen Autos gesetzlich nicht erlaubt). Sie fragen ganz besorgt, ob ich Hilfe brauche. So nett!
Wir holen uns die Hilfe selber, bei einem Chriesihändler am Strassenrand. Den prallen, roten Früchten können wir nicht widerstehen und wir bestellen ein halbes Kilo. Der Chriesi-Mann füllt uns einen Riesensack ab – definitiv viel mehr aus als ein halbes Kilo! – und schaufelt zum Schluss grad noch mal zwei Hände voller Früchte nach. Wir zücken das Portemonnaie, doch der Chriesi-Mann winkt ab. Er will partout kein Geld annehmen! So viel Gastfreundschaft an einem Tag, das macht einem schon ziemlich sprachlos. Wir schenken dem netten Bauern im Gegenzug einen Original-Lebkuchen und hoffen, die fremdländische Kolonialware habe ihm gemundet. Seine Chriesi auf jeden Fall munden uns später sehr, und sie versüssen uns ein rundes Jubliäum: 4000 Kilometer sind geschafft!
Der nächste Morgen überrascht mich mit farbigen Kerzli und Kuchen. Ja, Geburtstag feiern in der türkischen Pampa hat seinen ganz eigenen Reiz: Man gönnt sich zur Feier des Tages ein Glacé mehr und freut sich wie ein König. Fast das grössere Geschenk jedoch ist das Wetter: Auf unserer heutigen Zwei-Pässe-Fahrt haben wir das Glück von Wolken, aus denen es just bei den ärgsten Steigungen angenehm auf uns niedersprüht, als wäre Petrus mit dem ganz grossen Zerstäuber unterwegs.
Die Landschaft ist wunderschön, und dank kräfitigem Rückenwind erreichen wir am Abend bereits Nallıhan, ein Provinznest mit touristischer Attraktivität der Klasse C. Kein Wunder, werden bei unserem Eintreffen sofort die Attraktion Nummer eins. Während Christian mit dem leider nur türkischsprechenden Hotelbesitzer verhandelt und Auskunft über unseren Zivilstand geben muss (einen Beweis über unser Verheiratetsein bleiben wir leider schuldig), bin ich drei Stockwerke weiter unten sehr bald umringt von der halben Stadtbevölkerung. Da leider niemand Englisch kann, bringe ich meine wenigen Türkischkenntnisse an den Mann und wir schauen gemeinsam auf die grosse Landkarte. Ah, von Istanbul nach Ankara fahren sie!Was, die wollen bis nach China? Soviel habe ich verstanden. Wie unser Projekt generell beurteilt wird, übersteigt dann aber leider meine Türkischkenntnisse.
Trotz unserem illegalen gemeinsamen Nachtquartier starten wir am nächsten Tag erholt in eine harte, aber wunderschöne Etappe. Die Szenerie wechselt von grünen Alpen auf Wüste mit farbige Felsen. Spätestens hier sind wir uns einig: Der Umweg, den wir uns mit dieser „Nebenroute“ zugemutet haben, war die zusätzlichen Höhenmeter (am Schluss werden es 5000 gewesen sein) definitiv wert. Da die Temperaturen stetig steigen, gelüstet uns am Etappenziel nach langem wieder einmal nach einem kühlen Bier: Das erste in der Türkei! Doch das Auftreiben dieses Teufelszeugs gestaltet sich schwieriger als gedacht. Gefühlte Stunden wandern wir durch die Strassen und finden den einzigen Alkoholhändler der Stadt. Das sündige Getränk wird flugs in ein schwarzes Plastiksäckli gepackt, auf dass niemand merke, mit was wir da rumlaufen. Wir finden das eher amüsant: Denn mit schwarzem Plastiksäckli laufen hier definitiv nur Leute herum, die Alkohol eingekauft haben. Und das sind eigentlich nur wir.
Am nächsten Morgen werden wir bei der Stadtausfahrt von einem Türken angesprochen, der gerade auf dem Weg zur Arbeit ist. Sein Arbeitgeber ist eine offenbar landesweit bekannte Mineralwasserquelle, und er lädt uns zur Besichtigung ein. Leider liegt die Fabrik aber nicht am Weg, und da wir die zermürbende Wirkung von heissen Mittagstemperaturen auf den gemeinen Velofahrer kennen, verzichten wir schweren Herzens auf das verlockende Angebot.
Die fehlenden 110 Kilometer bis Ankara wollten wir eigentlich in zwei Etappen bewältigen und dazwischen in der lauschigen Ödnis der türkischen Halbwüste campen. Da uns der Wind aber mit voller Kraft in Richtung Hauptstadt schiebt, beschliessen wir, noch am gleichen Tag nach Ankara zu fahren. Was für ein Spiessrutenlauf! Die vierspurige Autobahn bringt uns in Stadtnähe, danach weichen wir auf Nebenstrassen aus. Doch irgendwann hatte Allah bei der Erschaffung der Erde wohl keine Nebenstrassen mehr übrig, und wir stecken zusammen mit den restlichen 4,6 Millionen Ankaraer im abendlichen Stau. Zum ersten Mal auf unserer Reise (mit Ausnahme von Albanien) ist der viele Verkehr wirklich bedrohlich, doch bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzufahren. Plötzlich stoppt ein Polizeiwagen neben mir und man bedeutet mir, rauszufahren. Ups, was habe ich bloss angestellt? Offenbar nichts! Die netten Herren wollen nur wissen, ob bei mir alles in Ordnung sei, und fahren anschliessend beruhigt vor mir im Stau.
Ankara per se ist keine Reise wert, obwohl die Bewohner wirklich äusserst kontaktfreudig sind. Als wir auf der Plattform „Couchsurfing“ unseren Aufenthalt ankündigen, erhalten wir zig Einladungen zum Übernachten, zum Kafi, zum Znacht, zum Mitdemonstrieren im Park und sogar ein Angebot fürs Helfen bei der Visumsbeschaffung. Leider müssen wir die netten Angebote ausschlagen, dafür werden wir mitten auf einem Spaziergang von Marcel „de France“ angesprochen, der uns spontan fragt, ob wir Französisch sprechen? Wir bejahen (eigentlich zu Unrecht, wer unser lausiges Französisch kennt) und es stellt sich heraus, dass Marcel ebenfalls mit dem Velo Richtung China unterwegs ist. Was für ein lustiger Zufall! Spontan essen wir gemeinsam Znacht und erhalten dabei gute Tipps, wie man die turkmenische Botschaft findet. Marcel hofft darauf, am Folgetag endlich sein iranisches Visum zu erhalten. Wie wir später in seinem Blog lesen, ist es auch nach den Wahlen offenbar noch immer fast unmöglich, ein solches zu erhalten. Wir haben in letzer Zeit schon von vielen frustrierten Veloreisenden Richtung China gelesen, die derzeit erfolglos auf ein Iranvisum hoffen. Was für ein Glück, dass wir zumindest dieses schon in der Tasche haben!
Nach unserem ernüchternden Besuch in der turkmenischen Botschaft beschliessen wir, gleich am nächsten Morgen früh die Weiterreise Richtung Kappadokien anzutreten. Bereits um 6:50 Uhr sitzen wir auf den Rädern und hoffen, so den Morgenverkehr zu umfahren. Das gelingt uns zwar, doch bleiben wir trotzdem länger als gedacht in Ankaras Strassen hängen: Wir haben die Rechnung ohne die ewig lange 10%-Steigung bei der Stadtausfahrt gemacht.
Die 160 Kilometer bis zur nächsten nennenswerten Siedlung sind öde und leer: Willkommen in den unendlichen Getreidefeldern Zentralanatoliens! Auch diese Etappe wollten wir ursprünglich in zwei Tage aufteilen und eine Campingnacht in der Steppe einschalten. Doch wir haben gerade eine Phase mit glücklichem Wind, und auch die Temperaturen sind weniger arg als erwartet. Da uns nur wenige Fotostopps Fahrzeit stehlen, stehen wir bald darauf vor einem grossen, weissen Fleck in der Landschaft. Was von weitem aussieht wie eine Zürcher Seegfrörni, entpuppt sich beim näherer Inspektion als beeindruckend grosser Salzsee: Der Tuz Gölü. Fasziniert stiefeln wir mit vorwiegend türkischen Touristen in der Salzlake herum und staunen nicht schlecht, als wir plötzlich ein „Grüezi mitenand, sind ihr Schwiizer?“ hören. Ein Basler mit türkischen Wurzeln hat unsere grossen Schweizkleber gesichtet. Als wir am Abend nach getanem Tagewerk unseren Kilometerzähler sichten, staunen auch wir nicht schlecht. Unser bisheriger Rekord: 159 Kilometer!
Anstatt den direkten Weg nach Kappadokien zu nehmen, machen wir einen kleinen Schlenker gen Süden und fahren zuerst in das weniger touristische, aber wunderschöne Ihlara-Tal. Als wir am frühen Nachmittag auf 1400 Metern Höhe in Güzelyurt eintreffen, schmilzt uns förmlich der Asphalt unter den Füssen, das Thermometer zeigt 42 Grad. Definitiv die richtige Temperatur, um die angenehm kühlen unterirdischen Städte zu erkunden. Diese alten Griechen wussten schon, wie man sich das Leben angenehm macht.
Die letzten 85 Kilometer vor Kappadokien bewältigen wir am bisher heissesten Tag. Schon am Morgen früh haben wir 29 Grad auf dem Zeiger, und es bläst ein fieser Gegenwind. Pünktlich zur allgemeinen Teer-Schmelze schaffen wir es trotz vielen Fotostopps nach Göreme, dem Mekka der berühmten Tuffstein-Formationen. Ja, wer hätte denn gedacht, dass dieses Mitteltürkien so pittoresk ist!
PS. An dieser Stelle einmal ein ganz herzliches Dankeschön für eure zahlreichen, lustigen und aufmunternden Kommentare. Wir sind uns bewusst, dass für euch das abwechslungsreiche Kommentieren je länger desto schwieriger wird (Oh wie schön!Oh wie spannend!Oh, ihr armen!). Dennoch freuen wir uns immer ganz fest über eure Lebenszeichen: Für uns wie eine Postkarte aus der Heimat. Nur weiter so! 🙂
Aufmerksame Besucher der Seite mit unserer gefahrenen Route haben es vielleicht bemerkt: Zwischen dem Tuz-Gölü-Salzsee und dem Ihlara-Tal liegen recht viele Kilometer, und auch eine grössere Stadt ist zu durchfahren. Dass dies im letzten Beitrag in keiner Weise erwähnt wurde, hat gute Gründe: Unsere Erlebnisse dazwischen schreien förmlich nach einem eigenen Beitrag – hier ist er!
Von der Sonne zu Frühaufstehern erzogen, erreichen wir die Stadt Aksaray bereits zur Mittagszeit, freundlich zweisprachig empfangen.
Im Schatten eines Baumes wägen wir am Ortseingang ab: Weiterfahren und in der erbarmungslosen Hitze genau das steilste Stück der folgenden Strecke meistern? In der Stadt die gröbsten Temperaturen aussitzen und gegen Abend ein zweites Teilstück fahren? Oder frühzeitig eine Unterkunft suchen und die Beine hochlagern? Wir sind unschlüssig. Einerseits fühlen wir uns noch recht frisch, da noch wenig Höhenmeter auf dem Kilometerzähler stehen. Andererseits wissen wir zu gut, dass die Spitzentemperaturen erst im Lauf des Nachmittags erreicht werden. Die Vernunft siegt vorerst einmal – wir beschliessen, ins Zentrum zu fahren und in einem Café unseren Durst zu löschen.
So kommt es, dass wir in der Nähe des schmucken Hauptplatzes eine Gartenbeiz mit flauschigen Lounge-Sesseln entdecken. Nichts wie hin! Da wir unsere Velos ungern aus den Augen lassen, stellen wir diese gleich nebenan vor eine Glasfront – peinlich darauf bedacht, niemandem im Weg zu stehen oder gar eine Tür zu versperren. Just in dem Moment, als wir uns in die Sessel plumpsen lassen wollen, tritt ein uniformierter Polizist aus der Tür. Uups, da haben wir uns wieder mal ein ganz geeignetes Plätzchen ausgesucht. Unsere Velos stehen, wie wir sofort messerscharf erkennen, direkt vor dem Polizeiposten. Ich erinnere mich gleich an eine ähnliche Szene im MMM-Migros vor Ankara, als ein Sicherheitsangestellter fast durchgedreht ist, weil wir unsere Räder auf dem Vorplatz des dortigen Cafés hingestellt haben. Es gibt Schuhbomber, Sprengstoffgürtelfanatiker – wer weiss schon, was sich in unseren bedrohlichen, riesigen Velotaschen verbirgt?
Ich mache mich auf eine kräftige Standpauke gefasst und will schon das Weite suchen, als der gute Mann wie wild zu fuchteln beginnt: Wir sollen reinkommen, sofort! Keine Widerrede! Da man gut erzogen ist und Respekt gegenüber staatlichen Organen zeigt, kommen wir der Aufforderung nach und finden uns wenig später im kleinen Polizeiposten von Aksaray wieder. Unser Mann stellt sich als Ayhan vor, ebenso anwesend ist eine jüngere Polizistin. Ayhan spricht im Gegensatz zu vielen unserer bisherigen Bekanntschaften ganz gut Englisch, und so entspannt sich eine etwas weitergehende Diskussion als sonst üblich. Durstig wie wir sind, bedeuten wir den beiden, dass wir nun wie geplant ins Café nebenan zu dislozieren gedenken. Dies kommt gar nicht in Frage, wird uns entgegnet, wir seien zum Tee eingeladen. Die Polizistin setzt Wasser auf und wenig später treten der Chef in Zivil sowie zwei weitere Uniformierte in Szene. Ayhan fungiert als Übersetzer, bis alle den gleichen Wissensstand über die zwei komischen Vögel aus İsviçre haben. Wild durcheinander fliegen die Sprachfetzen, Fragen, Gesten, Antworten. Tee um Tee wird serviert, wir lernen auf Türkisch zählen und Yvonne wird auch gleich von Ayhan in die Familie aufgenommen. Er erklärt sie liebevoll zur Cousine; die neue familiäre Verbindung wird für uns Begriffsstutzige anschaulich auf einem Stück Papier niedergekritzelt. Der entsprechende türkische Ausdruck hala amca kızı wird zum geflügelten Wort des Tages.
Der Tee fliesst in Strömen und unsere Blasen senden bereits erste Warnsignale, ausserdem wollten wir ja über die Weiterfahrt nachdenken. Statt dessen lernen wir die Schlachtrufe der favorisierten Fussballklubs kennen, schauen Fenerbahçe-TV und müssen Position für oder gegen Galatasaray oder eben Fenerbahçe beziehen. Hakan Yakin kommt ins Spiel, ja klar, den FC Basel kennt man, ebenso den Murat! Ob wir Pisa kennen würden mit dem schiefen Turm – so einen hätten sie auch hier in Aksaray in Form eines Minaretts. So geht es weiter, bis wir uns losreissen und uns herzlich verabschieden. Um 19 Uhr werde in der Türkei gegessen, mahnt uns Ayhan. Wenn wir dann doch noch in der Stadt seien, hätten wir uns sofort auf dem Polizeiposten zu melden. Sie hätten dann Feierabend und man werde anschliessend gemeinsam speisen.
Wieder draussen, packen wir unsere Velos und stehen Minuten später auf dem geräumigen Vorplatz einer noch geräumigeren Moschee. Was nun? Es ist nun noch heisser und wir sind unschlüssiger als zuvor. Der Türke nebenan unter dem kühlenden Baum nutzt die Gunst der Stunde, um etwas auf Deutsch zu parlieren – auch er hat wie viele andere ein paar Jahre in Deutschland gelebt und erzählt uns nun ein wenig von seiner Heimat, in die er als Rentner zurückgekehrt ist. So gewinnen wir weitere Zeit, bis plötzlich – wir trauen unseren Augen kaum! – unsere ganze illustre Polizistenschar wieder vor uns steht. Wie haben die uns gefunden?!? Alle drei strahlen selig und erklären ihren erneuten Auftritt damit, dass sie in der kurzen Zwischenzeit bereits das Zettelchen verloren hätten, auf dem wir unsere E-Mail-Adressen notierten! Da steht man also erneut herum (diesmal ohne Tee), parliert über dies und das, und das freudige Wiedersehen wird kurzerhand in eine kleine Stadtbesichtigung ausgebaut: Erst dürfen wir die sehenswerte Moschee aus dem 15. Jahrhundert besichtigen – Yvonne mit der Polizistin Hatice durch den Nebeneingang, wo die Frauen beten, und ich mit dem Herrn Polizist unten den grossen Betraum.
Wir überlegen uns, wie wir die muntere Polizistentruppe nun langsam loswerden könnten, damit wir endlich über das restliche Tagesprogramm befinden können. Wir verabschieden uns deshalb mit dem Hinweis, dass wir nun noch den schiefen Turm von Aksaray besichtigen würden. Schlechter Plan, denn das Strahlen wird noch grösser! Wir werden angewiesen, an der Strasse bei der nächsten Kreuzung zu warten. Wenige Augenblicke später taucht ein Polizeiauto auf, drinnen mit breitem Grinsen unser Polizeiteam, und munter wird das Polizeihorn betätigt. Wir unterdrücken ein Kichern: Wir auf unseren schwer bepackten Velos im Schlepptau der Polizei durch die Stadt, das muss ein Bild abgegeben haben! Hinter dem Kastenwagen herfahrend, erreichen wir ein paar Blocks weiter in einem Quartier mit schönen osmanischen Gebäuden das krumme Minarett.
Nach einem lustigen Fotoshooting ist unser Wille zur Weiterfahrt definitiv gebrochen. Wir bedeuten unseren liebenswürdigen Begleitern, dass wir uns nun eine Unterkunft suchen würden. Auf eigene Faust dürfen wir das keinesfalls, wir werden wiederum durch die Strassen geleitet, parlieren am Rotlicht mit einem weiteren Deutsch-Türken, der sich über unseren massiven Polizeischutz wundert, und landen letztendlich in einem Hotel, wo uns auch gleich der übliche Preis- und Besichtigungstamtam erspart bleibt – alles ruck-zuck organisiert von deinem Freund und Helfer! Uns zieht es definitiv langsam Richtung Zimmer und Dusche, doch da haben wir die Rechnung ohne die Polizei gemacht. Man hat ja Zeit! Die Herren und die Dame machen es sich in den Sesseln unserer Hotel-Lobby bequem und lassen schon wieder Tee servieren. Als die Truppe dann definitiv abzieht, wird uns nochmals eingeschärft, sich um 19 Uhr auf dem Posten einzufinden.
Mit Duschen, Dösen und Beitragschreiben verstreicht die Zeit bis dahin im Nu, wir verlassen unser Zimmerchen erst knapp vor sieben. Offenbar hat man sich bereits Sorgen um uns gemacht. In der Lobby stehen Adem und Ibrahim, die uns in ihren Polizei-Kastenwagen verfrachten (für uns beide die erste Fahrt in einem Polizeiauto!). Unterwegs holen wir Hatice ab, beim Bäcker wird Brot und beim einem weiteren Geschäft das Essen eingeladen und schon sind wir wieder auf der Polizeistation. Wo wir am Nachmittag in lustiger Runde aufgehört haben, setzen wir die muntere Diskussion beim gemeinsamen Mahle fort. Ohne Besteck wird das Brot in den scharfen Eintopf getunkt, dazu wird Ayran gereicht, ein salziges Joghurtgetränk. Mmmmh!
Kaum ausgegessen, wir alles weggeräumt, tiptop saubergemacht und schon ist wieder eine riesige Kanne Tee aufgesetzt. Der zweite Ibrahim wird aufgrund eines Missverständnisses meinerseits zu Mr. Guru, was zu einiger Belustigung führt, da dies auf Türkisch irgendetwas mit Frosch zu tun haben muss. Der erste Ibrahim entpuppt sich als musischer Polizist, wagt ein paar Tanzschritte und singt die Schweizer Nationalhymne, welche wir peinlicherweise nicht erkennen. Ayhan und die diversen Mobiltelefone fungieren dabei als Übersetzer, draussen bestaunen wir gemeinsam den Vollmond und plötzlich stehen auch Süssigkeiten in Form von „türkischen Churros“ auf dem Tisch. Wir lachen und reden und tauschen zuletzt unsere Kontaktdaten aus – Ehrensache, dass unsere erste Karte aus China nach Aksaray geht!
So endet ein langer Tag mit einem riesigen Strauss wundervoller Erlebnisse. Als wir im Bett liegen, brummt uns der Schädel und wir können kaum glauben, wie uns geschehen ist. Vielen Dank, teşekkür ederim an Ayhan, Hatice, Ibrahim the Musician, Adem, Mr. Guru Ibrahim, The Boss für eure unglaubliche, herzliche Gastfreundschaft, die uns noch lange in Erinnerung bleiben wird!
Duftende Blumenfelder. Hupende Lastwagen, Lieferwagen, Busse, Autos, Motorräder, Panzer. Der ferne Ruf des Muezzins. Gegenwind. Auf der Strasse tanzende Ameisen. Frauen bei der Feldarbeit. Sengende Nachmittagssonne. Das Pfeifen des Winds im Helm. Süsslicher Duft der Abfallhalde. Wind streicht durch goldene Getreidefelder. Sax-Solo von Chris White im Kopf (Dire Straits – „Romeo and Juliet“ live 1993). Knatternde Wasserpumpe im fernen Feld. Schweisstropfen auf der Stirn, am Rücken, auf den Armen. Aufmunternde Zurufe aus den Autos oder vom Strassenrand. Plattgefahrene Eidechsen, Frösche, Igel, Hunde, Katzen, Schildkröten. Auf den Helm prasselnde Regentropfen. Abgaswolke, wahlweise mit Diesel- Benzin- oder Gasgeschmack. Keuchender Güterzug. Lange Schatten auf der kühlen Abendfahrt. Hundegebell. Sirrende Stromleitung. Trinkpause unter dem einzigen Baum weit und breit. Schmetterlinge. Rückenwind. Das Flimmern des Horizonts in der Mittagshitze. Surrender Mähdrescher im Kornfeld. Rasante Abfahrt. Ohrwürmer von Züri West singen. Landschaften, die sich wie Panoramabilder ins Gedächnis einbrennen. Am Berg den eigenen Puls im Kopf hämmern hören. Männer mit Sensen im Gras. Das Knacken geschmolzener Teertropfen beim Drüberfahren.
Beeindruckende Weite. Zwischen zwei Lastwagen ein kleines Stück Stille. Einladung zum Tee. Weckergeklingel in aller Herrgottsfrühe. Duftendes Fladenbrot und weicher Streichkäse. Fröhlich winkende Lastwagenchauffeure. Einladung zum Tee. Dechiffrieren der neuen Sprache. Blicke. Gekicher über sarkastische Bemerkung des Mitfahrers. Schmerzende Knie. Drückende Hitze. Freundliche Menschen. Tee. Scheppernder Muezzin. Tee. Laut singend hinan. Laut singend hinab. Lustige Bemerkung des Mitfahrers notieren. Trotz voller Fahrt für Foto anhalten. Tankstellenhalt für Getränk. Tee. Tankstellenhalt für Getränke-Entleerung. Silbern glänzende Moscheen. Kirschensaft. Kopftücher. Geruch von Kebab. Hinter der Sonnenbrille verstohlen den Einheimischen nachgaffen. Selber begafft werden. Laut hupende Autofahrer. Tee. Ganzkörperburka. Türkische Schnäuze. Knatternde Traktoren. Foto schiessen auf der Passhöhe. Fragen beantworten. Karte studieren. Gegenwind. Rückenwind. Seitenwind. Uralte Fiats und endlose Getreidefelder. Beeindruckende Weite. Glücksgefühl. Einladung zum Tee.