Tour-de-Burma in 20 Minuten
Der Thailänder ist ein festfreudiger Mensch. Egal, wer auf der Welt gerade etwas feiert – Weihnachten, Neujahr, chinesisches Neujahr, indisches Neujahr, islamisches Neujahr, und vermutlich auch orthodoxe Ostern und jüdisches Chanukka – der Thai ist dabei! Denn nichts kommt ihm gelegener als eine Ausrede, seinen Plastikstuhl herauszuräumen, den Billig-Whisky mit Sodawasser auf den Tisch zu stellen, ein paar Satay-Spiesschen auf dem Grill zu braten und die Musik (noch) lauter zu drehen. Als wir vor Weihnachten den ersten Thai mit einer roten Nikolausmütze orten und die Angestellten der Ladenkette Tesco Lotus als Weihnachtsfrauen und -männer verkleidet am Eingang posieren, haben wir noch ordentlich Mitleid. Erst als wir in völlig untouristischen Städten Leute beim Nudelnschlürfen oder Schuhverkaufen mit Niklauskappe antreffen, wird uns klar: Das ist freiwillig! Kein T-Shirt zu rosa, kein Lametta zu bunt, kein elektrisches Lämpchen zu schrill, keine Chlausmütze zu doof und kein Weihnachtsbaum zu künstlich, um des Thais Liebe für Kitsch zu befriedigen.
Der Thailänder ist auch ein geduldiger Mensch. Erstens: Er hupt nicht. Zweitens: Er überholt mit Respekt. Drittens: Er zuckt mit keiner Wimper, wenn wir wieder mal die falsche Richtung die Einbahnstrasse hinunterfahren. Oder auf der falschen Strassenseite. Oder beides. Ein Extrembeispiel erleben wir an einem frühen Morgen, als wir in einer schmalen Quartierstrasse unsere Gäule satteln. Heran braust ein Toyota Hilux (was sonst) und fängt an, neben uns in aller Ruhe etwas auszuladen. Kommt der Pöstler auf dem Töffli angefahren. 2 Velos, 1 Kleinlaster, da bleibt bei aller Liebe kein Platz für ein Durchkommen. Wollen wir doch mal kurz vor dem geistigen Auge durchgehen, wie die Pöstler auf unserer bisherigen Route reagiert hätten:
Der Pöstler in…
China: …hätte so lange laut (!) dauergehupt (!), bis wir uns 30 Sekunden später alle völlig entnervt (und taub) von der Strasse geräumt hätten.
Italien: …wäre so früh sowieso nicht unterwegs. Er sitzt noch in der Bar beim Caffè. Oder beim zweiten. Oder beim dritten.
Griechenland: …hätte gerade gestreikt. Arbeit ist lästig.
Türkei: …hätte uns spontan zum Tee eingeladen. Ein Tee löst jedes Problem.
Laos: Es gibt keinen Pöstler.
Tadschikistan: …wäre auf den Esel umgestiegen und hätte den Umweg über die Berge genommen.
Albanien: …hätte uns vermutlich erschossen. 😉 (Und dann im Mercedes die Flucht ergriffen)
Iran: …hätte uns nach Hause eingeladen.
Usbekistan: …hätte erst mal den Vodka hervorgeholt, um die willkommene Pause zu feiern.
Schweiz: …hätte verärgert „sölemal choo“ gerufen und auf seinem GPS fieberhaft eine Alternativroute gesucht. Zeit ist schliesslich Geld!
Und was passiert in Thailand? Der Pöstler wartet seelenruhig, ohne zu hupen, ohne überhaupt ein Wort zu sagen, geschlagene fünf Minuten geduldig vor dem Auto, bis er vorbeifahren kann. Einzig die Tatsache, dass er dabei den Motor nicht abstellt, gibt ein paar Punkte Abzug.
Man würde es kaum glauben, aber die Einfahrt in die Megacity Bangkok gestaltet sich erstaunlich stressfrei. Bis 30 Kilometer vors Stadtzentrum folgen wir einem lauschigen Kanal. Offenbar haben wir dabei per Zufall die absolute ‚In‘-Strasse erwischt, denn uns kommen im Minutentakt hippe Bangkoker auf dem Rad entgegen. Danach schlängeln wir uns durch schmale Quartiergassen, Einbahnstrassen (natürlich verkehrt) und bei inzwischen brütender Hitze schlussendlich doch noch durch schweren Stadtverkehr – und dann sind wir da. Hip, hip, hurra: Zürich – Bangkok in 283 Tagen!
Obwohl wir beim Anblick von weissbeinigen Rucksacktouristen und fettwampstigen Westlern erst mal einen zünftigen Kulturschock erleiden, sind wir nach wie vor grosse Fans dieser Stadt. Ob im chaotischen Gewusel von Chinatown oder als Winzlinge vor gigantischen Buddha-Zehen in einem ‚Wat‘, Bangkok hat unglaublich viele Facetten. Und wir feiern zahlreiche Wiedersehen. Peter aus Hongkong, mit dem wir im Jeep die letzten Pamirkilometer verbracht haben, ist per Zufall ebenfalls in der Stadt. Silvester verbringen wir mit gleich sechs anderen Fernradlern: Heidi & Markus aus Österreich, Ria & Oliver sowie Anja & Peter aus Deutschland. Das Highlight wird nicht wie erwartet das Feuerwerk (fand woanders statt), sondern das ausgelassene Feiern mit festfreudigen Thais (siehe oben). Wir kennen zwar keinen einzigen der live gespielten Songs, dennoch tanzen wir bis früh in die Morgenstunden durch und unsere deutsch-österreichisch-schweizerische Polonaise wird ein grosser Hit… Ein perfekter Start ins Jahr 2557!
Nach einer Woche Faulenzen zwickt es uns langsam im Veloschuh und wir freuen uns richtig, wieder loszufahren. Wobei loslaufen vermutlich das bessere Wort wäre. Ich sage nur: Finger weg von Google Maps für Fussgänger! Voller Freude erstelle ich am Vorabend auf Google Maps eine Route. Da wir keine Lust haben, auf vierspurigen Autobahnen aus der Stadt zu fahren, wähle ich ganz einfach die Option ‚Fussgänger‘. Erst geht das Ganze ja noch prächtig und bei der Ausfahrt aus der Innenstadt über eine pompöse Brücke stehen bereits die Filmteams und Fotografen da und nehmen uns eifrig ins Visier. Nanu? Offensichtlich sind wir nur die Vorband für, wie wir vermuten, einen weiteren Bangkoker Strassenprotest. Danach werden die Strassen jedoch schmaler und schmaler, es geht über Fussgängerbrücken, Hinterhöfe, über Trampelpfade und auf windigen Stegen – und wäre es strikt nach Google Fussgänger-Maps gegangen, hätte es auch noch ein paar Treppen im Sortiment gehabt.
Doch trotz gelegentlichem Gefluche meines Navigationsmannes beschert uns diese Art von Ausreise aus Bangkok eine relativ verkehrsarme und spannende Fahrt. Später weicht das Betongrau einem saftigen Grün und wir fahren stundenlang durch schwimmende Gärten mit Zitronen und Mandarinen, Ananasplantagen und Reisfelder. Wir machen sogar noch einen Schlenker zu den berühmten ‚Floating Markets‘. Doch naiv von uns! Auf dem schwimmenden Markt ist natürlich nur am Wochenende Betrieb, wenn die Touristen aus Bangkok anrollen. Unter der Woche pfeift man hier aufs Schwimmen und geht in den Supermarkt. Wir stürzen uns fürs Foto aufs einzige schwimmende Schiff und radeln dann zügig an unseren Zielort Samuth Songkhram. Auch hier ein herzliches Dankeschön an Google Maps, denn sämtliche der dort eingezeichneten Hotels existieren nicht, nicht mehr oder werden wohl erst in 20 Jahren gebaut. Wir verlassen uns deshalb auf die gute alte analoge Methode… und fragen. Das Englisch ist hier nicht mehr so flüssig wie auch schon, deshalb nimmt mich die Dame an der Hand und führt mich in ein Lokal um die Ecke. Etwas was wir nie als Hotel identifiziert hätten, entpuppt sich als nette Erinnerung an türkische Verhältnisse. Wir erhalten ein blitzsauberes Kämmerlein mit Holzboden, zwei dünne Tücher aus Baumwolle und duschen dann ‚the Thai way‚. Wir haben die Qual der Wahl: Kaltes Wasser mit der Schöpfkelle aus dem Brunnen oder fliessend kaltes Wasser aus der Dusche (hohoo!). Aber hey, für 4 Franken das Zimmer sowie jede Menge unbezahlbaren Charme ist das ein echter Deal. 😉
Am Tag danach gibt es ein weiteres freudiges Wiedersehen. Seit Istanbul stehen wir das erste Mal wieder am Meer! Der Weg führt über eine vom thailändischen Amt für Landstrassen gesponserte Route, wo (nicht übertrieben!) alle zwei Kilometer ein lustiges Hinweisschild zu lokalen Gegebenheiten wartet. Mit der Zeit lässt unser Elan nach, ständig zu stoppen, um zu erfahren, warum die Salzwasserdrossel aus dem Nordkaukasus im Winter ausgerechnet hier ihre Eier ausbrütet. Trotzdem herzlichen Dank, Department of Rural Roads!
Apropos Proteste. Aus der fernen Heimat hören wir immer wieder besorgte Stimmen zur Lage in Bangkok. Obwohl das bekannte Travellerviertel Khaosan Road nur eine Querstrasse vom Ort des Geschehens weg liegt, hat man während unseres Aufenthalts ausser ein paar umgeleiteten oder nicht fahrenden Stadtbussen nichts davon bemerkt. Eigentlich schade, denn seit Istanbul haben wir kein Tränengas mehr geschnuppert! Das Protestlager erinnert uns mit seinen bunten Zelten, den Strassensperren und der Jahrmarktstimmung zwar ein bisschen an damals am Bosporus, dennoch liegen Welten dazwischen. Istanbul war bunt, schrill, ein Fest, ein Ereignis, eine Entladung lange aufgestauter Wut, eine Bewegung aus dem Volk, von der Regierung brutal niedergeschlagen und dadurch von überraschender Kreativität beseelt. Hier ist offensichtlich die reiche, unzufriedene Opposition am Werk, die gigantische Fernsehschirme und luxuriöse Festzelte installiert hat, gratis Essen und Trinken verteilt, während der Oppositionsführer Abend für Abend stundenlang Hassreden ins Mikrofon brüllt. Wir kennen uns mit den thailändischen Verhältnissen zu wenig aus. Doch dass die reiche Oberschicht ihre Interessen mit allen Mitteln durchsetzen und gar Neuwahlen verhindern wollte, scheint uns alles andere als demokratisch. Sympathiepunkte gibt das nicht.
Unser erster Strandstopp begeistert uns wenig. Cha-Am ist wie Hua Hin ein bekannter Badeort in Bangkoks Reichweite und hier sitzen vor allem pensionierte Deutsche, Schweizer oder Nordländer und füllen ihren Lebensabend mit Bier. Vorbei an unzähligen Shrimp-Farmen und Karstfelsen geht es darum zügig in den Süden. Umso grösser ist die Überraschung, in Prachuap Khiri Khan ein fast griechisch anmutendes Küstenörtchen zu finden. Zwar lungern immer noch erstaunlich viele Westler in diesem attraktionsbefreiten Ort herum, aber der Monkey Mountain, der populäre Wochenendmarkt, das gute Essen und die relaxte Atmosphäre verleiten uns dazu, ein paar Tage hängenzubleiben. Danach wird die Szenerie spektakulär. Unsere Route führt zum grossen Teil auf kleinen Nebenstrassen unter Palmhainen direkt am Meer entlang. Da wir die langweilige und lärmige Schnellstrasse vermeiden wollen, landen wir oft auch auf etwas zweifelhaften Routen. Wir tragen unser Velo über Bahngeleise und Strassensperren oder stossen sie durch Sandwege, um am Ende der Welt auf zwei sympathische und englischsprechende (!) Französinnen auf dem Mietroller zu treffen. Die Überraschung war gegenseitig! Einsame Strände wechseln sich in der Folge mit kleinen Fischerdörfern ab und dank Rückenwind fliegen wir nur so dahin. Kein Wunder, bleiben wir in Bang Saphan gleich wieder hängen. Ein reizendes Holzbungalow, Hängematten direkt am Meer, ein Strandrestaurant, hohe Wellen, laues Wasser – Velofahrerherz, was willst du mehr.
Für die Strecke nach Bangkok in den Süden hatten wir uns auf Langweile eingestellt. Doch das Gegenteil trifft ein: Die Küstenstrasse ist ein kleiner Geheimtipp. Riesige Buddhas, einsame Palmbuchten, Karstfelsen, Mangrovenwälder, Sanddünen und gar schon die ersten Moscheen kreuzen unseren Weg. Kurz vor Chumphon treffen wir ein vorläufig letztes Mal Heidi & Markus und wollen vor dem gemeinsamen Nachtessen „no schnäll“ unsere Bremsklötze austauschen. Wir sind etwas irritiert, als Markus bei den Worten „noch schnell“ in schallendes Gelächter ausbricht. Vier Gummiklötzli montieren, das ist dank unserer Magura doch ein Kinderspiel. Oder? Nein! Es wird ein Hängen und Würgen, ein endloses Fluchen, wir müssen die Schaltkabel verdrehen, versteckte Schrauben lockern und bringen es auch nach Stunden des Googelns nicht auf die Reihe. Das nächste Mal, so schwören wir uns, setzen wir auf mechanische Scheibenbremsen. Und sagen: Danke, Magura, danke!
Der Wechsel von der Ost- an die Westküste ist mit einem klitzekleinen Detail verbunden: Berge. Erst fahren wir Hügelketten von Karstbergen entlang, die aussehen wie ewiglange Kamelhöcker. Was den Vorteil hat, dass man die steilen Bergflanken (mit dem einen oder anderen Loch drin!) gäbig von der Seite her anschauen kann. Es geht recht zahm auf und ab und just in dem Moment, als Christian befriedigt auf das GPS schaut und sagt: „Jetzt hämmers dänn grad gschafft!“, geht es natürlich erst richtig los. Der thailändische Strassenbauer stand wohl vor diesem Bergmassiv und dachte sich: Wieso Asphalt verschwenden? Kurven sind sowieso überbewertet. Also fahren wir die nächsten Kilometer gredi den Berg hinauf und es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es an gewissen Stellen bei 16% Steigung weder im Slalom noch schiebend vorwärts geht. Aber der Vorteil an steilen Bergen ist, dass die Höhenmeter recht schnell purzeln. Und wir purzeln hinten den Berg wieder hinunter.
Ranong steuern wir nur aus einem Grund an: Wir haben ein administratives Problem. Dank unserem Bergausflügli im Norden fehlen uns jetzt ungefähr sieben Tage, um rechtzeitig vor Ablauf unseres Visums ausser Landes zu kommen. Zwar wäre es trotz Berücksichtigung der allgemeinen Gesetze der Physik theoretisch denkbar gewesen, dass wir es schaffen könnten, aber das hätte ein Nonstopgeradel ohne Blick nach links und rechts bedeutet. Und wehe, einer von uns hätte wegen gesundheitlichen Problemen nicht weiterfahren können. Was also tun? Ausreisen, natürlich!
Dank Internet wissen wir genau, welches Sammeltaxi uns zur Bootsanlegestelle bringt, dass wir frisch gedruckte Dollarnoten im Gepäck haben müssen, wie viel der durchschnittliche Burmese für die Überfahrt hinblättert und dass man beim beliebten ‚Visa-Run‘ nach Burma gerne billigen Fusel einkauft. Mit einer Schwimmweste bewaffnet lassen wir uns auf einem schmalen Holzkahn in 20 Minuten über den Meerbusen auf die burmesische Südspitze übersetzen. Neben uns sitzt ein amerikanischer Schriftsteller mit französischem Beret und wir hirnen die ganze Zeit, ob vielleicht gerade Stephen King oder Dan Brown neben uns sitzt…? Das Prozedere ist denkbar einfach. Aus dem Böötli steigen, dem ominösen Schriftsteller ins Immigrationsbüro folgen, unsere nigelnagelneuen Dollar für ein Dreitages-Visum hinlegen, sich in diesem Burma ein bisschen die Beine vertreten und dann wieder zurück aufs Böötli. Aufenthaltsdauer in Minuten: 20. Ausgaben in Dollar: 20. Gekaufte gefälschte Pillen: 0. Wiedereinreise nach Thailand: Gratis. Schön wars!
4 Kommentare
Kurt Wulle
Und was macht der Pöstler in Turkmenistan? Rumturksen.
Yvonne
Der Pöstler in Turkmenistan wäre bei 5 Minuten Wartezeit an der prallen Sonne spontan dehydriert. Oder wegen Hitzeschlag tot umgefallen. 😉
Monsieur T
Und das gute alte Kho Chang habt ihr einfach südöstlich liegen gelassen?-)
Daumen rauf für den Pöstlervergleich, obwohl die lieben Albaner ein bisserl gar schlecht wegkommen. Ihr wisst doch: Sie schießen nur auf die lästigen Tzatziki-Griechen…
irgendlink
Der Pöstlervergleich ist wirklich klasse. Der deutsche hätte alle Briefe mit einem Stempel „Empfänger unter der angegebenen Adresse nicht zu ermitteln“ versehen und wäre umgedreht 🙂